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„Die Iraker wollen keinen Stellvertreterkrieg“

forumZFD-Länderdirektorin Raife Janke über die aktuelle Situation im Irak

Raife Janke baut seit letztem Jahr für das forumZFD ein Programm zur Friedensförderung im Nord-Irak auf. Im Interview spricht sie über die Situation im Land nach der Ermordung des iranischen Generals Soleimani, die möglichen Folgen eines Abzugs internationaler Truppen sowie die aktuellen und langfristigen Herausforderungen für zivilen Wiederaufbau, die Aufarbeitung der Gewalterfahrungen und die Friedensförderung im Irak.
Raife Janke
© forumZFD

Wie wurde die jüngste Eskalation nach der Ermordung des iranischen Generals Soleimani am Bagdader Flughafen durch die USA in der Region aufgenommen?

Die Ereignisse der letzten Tage wurden hier mit Sorge aufgenommen. Viele sehen diese Entwicklung als eine weitere Eskalationsstufe in dem ohnehin seit langem angespannten Verhältnis zwischen Iran und USA. Die irakische Regierung sieht in dem Akt eine klare Verletzung der irakischen Souveränität. Einige Gruppierungen betrachten die Tötung von Soleimani durchaus als einen Akt der gezielten Provokation. Die Irakerinnen und Iraker wollen keinen Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und den USA auf irakischem Boden. In vielen Landesteilen leiden die Menschen nach wie vor stark unter den Auswirkungen der IS-Herrschaft und versuchen, schrittweise ihr Leben wiederaufzubauen. Ein erneuter Krieg würde nicht nur den Irak, sondern die ganze Region weiter destabilisieren.

Das irakische Parlament hat als Reaktion in einer Resolution den Abzug aller internationalen Truppen gefordert. Welche Rolle spielen die USA, der Iran und andere Staaten bei den aktuellen Auseinandersetzungen im Irak und was wären mögliche Folgen eines Abzugs der Truppen?

Die US-Streitkräfte wurden Mitte 2014 von der irakischen Regierung gebeten, den Kampf gegen den IS aufzunehmen und sie militärisch zu unterstützen. Die USA haben seitdem durch ihre Luftwaffe und Truppen am Boden intensiv den Kampf gegen den IS gemeinsam mit ihren Koalitionspartnern geführt. Sie haben die irakischen Streitkräfte sowie die kurdischen Peschmerga mit Waffen und Munition ausgestattet und helfen weiterhin bei der Ausbildung dieser Streitkräfte. Andere Koalitionspartner – unter anderem auch Deutschland – unterstützen die irakische Regierung vorwiegend bei der Ausbildung des Militärs.

Der Iran unterstützt den Kampf gegen den IS mit Milizen, sogenannten Popular Mobilization Forces/Units und hat im Zuge der militärischen Erfolge deutlich an Einfluss gewonnen. Diese Milizen wurden nach der Einnahme der Stadt Mosul durch den IS Mitte 2014 durch einen Aufruf des irakischen schiitischen Religionsführers Ali Al-Sistani gegründet, um weitere irakische Städte vor dem IS zu schützen. Daraufhin haben sich überwiegend schiitische Milizen aber auch sunnitische, jesidische und christliche, sowie teils gemischte Einheiten gebildet. Mittlerweile sind diese Milizen dem irakischen Militär zugeordnet und werden auch von der irakischen Regierung finanziert. Sie sind bis heute in den vom IS befreiten Gebieten tätig und kontrollieren gemeinsam mit dem irakischen Militär die Gouvernements in Saladin, Anbar und Ninewa.

Ein kurzfristiger Abzug der internationalen Truppen würde meiner Ansicht nach eine militärische Lücke im Kampf gegen den IS hinterlassen, die vom irakischen Staat zum jetzigen Zeitpunkt nicht geschlossen werden könnte. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Wiedererstarken extremistischer Gruppierungen führen und den Schutz einiger Minderheiten gefährden.

Fraglich ist auch, wer das militärische Vakuum nach einem Abzug der Koalitionseinheiten füllen würde. Die Menschen hier im Irak, insbesondere Angehörige der vielen Minderheiten wie Jesiden, Christen, Kurden, aber auch weitere kleinere Gruppen, vertrauen nicht darauf, dass die Regierung sie im Falle eines erneuten Konfliktes schützen könnte.

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Welche Konsequenzen sind nun für das zivile, internationale Engagement im Land zu befürchten?

Ungeachtet der aktuellen Krise steht das zivile Engagement ohnehin zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Der Irak ist nach wie vor auf internationales Engagement angewiesen, vor allem in den Regionen im Westen und Norden des Landes, die zuletzt vom IS befreit wurden. Sie befinden sich immer noch in der ersten Wiederaufbauphase. Es fehlt den Menschen weiterhin an Basisinfrastruktur wie Wasser- und Stromnetzen, Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, viele Wohnhäuser sind noch zerstört oder durch Minen kontaminiert. Ein Wiedererstarken des IS oder anderer Milizen und aufständischer Gruppierungen würde unweigerlich dazu führen, dass Zugänge zu einzelnen Regionen und Gemeinden weiter eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr gegeben wären. Schon jetzt findet der zivile Wiederaufbau angesichts der zahlreichen Macht- und Gebietsstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Milizen oder lokalen Machthabern unter schwierigen Bedingungen statt. Jede weitere bewaffnete Auseinandersetzung ließe noch weniger Raum für ziviles Engagement.

Die Menschen im Irak haben Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte und interner Vertreibung erlebt. Welche Konflikte spalten die Gesellschaft und mit welchen Folgen des Krieges gegen den sogenannten Islamischen Staat haben die Menschen nach wie vor zu kämpfen?

Die Diktatur von Saddam Hussein, drei Golfkriege und die nachfolgenden Bürgerkriege und Völkermorde haben alle Bevölkerungsgruppen im Irak schwer getroffen. Die massiven Gewalterfahrungen haben zu kollektiven Traumata und tiefsitzendem Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Gruppen geführt sowie das Vertrauen in den Staat erheblich erschüttert.

Dazu kommt, dass der Irak seit Jahren einer Vielzahl externer Einflüsse ausgesetzt ist, die nicht dazu geeignet sind, das Land zur Ruhe kommen zu lassen. Neben der US-Präsenz und seinen Interessen intervenieren Nachbarländer wie die Türkei und der Iran immer wieder im Irak. Beispielsweise unterhält die Türkei ein gutes Dutzend Militärbasen im Irak und fliegt regelmäßig Luftangriffe im Namen der Terrorismusbekämpfung über irakischem Territorium, während der Iran bestrebt ist, seinen Einfluss zum Mittelmeerraum hin zu erweitern.

Aktuell gibt es Konflikte auch innerhalb der irakischen Zentralregierung sowie Spannungen zwischen ethnisch-religiösen Gruppierungen. Dazu kommen die Konflikte zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung sowie innerkurdische Konflikte. Das irakische Parlament konnte sich bis dato nicht auf einen Nachfolger für Premierminister Mahdi einigen, womit ein politisches Machtvakuum entstanden ist. Seit Oktober ist eine Protestbewegung entstanden, die eine bessere und transparente Regierungsführung fordert. Diese Proteste wurden gewaltsam durch die Sicherheitskräfte niedergeschlagen, mehr als 500 Menschen wurden dabei bis heute getötet und tausende verletzt. Der Unmut in der Bevölkerung und bei den Protestierenden richtet sich auch gegen schiitische, teilweise dem Iran nahestehende politischen Eliten, gegen Misswirtschaft, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit im Land.

Über all dem darf man nicht vergessen, dass der bewaffnete Konflikt mit dem IS nicht beendet ist. Der IS unterhält weiterhin viele Schläfer-Zellen und verübt immer wieder Anschläge aus dem Untergrund heraus. Es gibt immer noch mehr als 1,7 Millionen interne Vertriebene sowie 250.000 syrische Flüchtlinge im Irak. Mehr als 200 Massengräber wurden bis heute entdeckt. Besonders das Gouvernement Ninewa im Norden des Landes, die Region mit der größten ethnischen Vielfalt des Irak, war und ist von den Gräueltaten des IS stark betroffen. Entführte jesidische Jugendliche, die vom IS als ‚Dschihadisten‘ trainiert wurden, harren zum Teil noch in speziellen Einrichtungen, aber auch in Flüchtlingslagern in der Autonomen Region Kurdistans ohne angemessene Hilfe und Betreuung aus. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, die in den notdürftigen Lagern ohne Zugang zu Bildung und ohne Perspektiven zum Teil unter elenden Bedingungen aufwachsen, wird eine erneute Radikalisierung und damit ein Wiedererstarken des IS befürchtet.

Aufgrund der teils fragilen Sicherheitslage und der vom Krieg zerstörten Infrastruktur kehren viele Menschen nur zögerlich oder gar nicht mehr in ihre Heimatorte zurück. Meiner Erfahrung nach sehen viele Menschen, allen voran Angehörige von Minderheiten einschließlich vieler Kurden, ihre Zukunft nicht mehr hier im Irak.

Wo wird ziviles Engagement im Nord-Irak benötigt, um eine Perspektive auf dauerhaften Frieden aufzubauen?

Das zivile Engagement wird nicht nur im Nordirak in den Gouvernements Ninewa, Saladin und den Gebieten unter der kurdischen Regionalregierung, sondern vielerorts im Irak benötigt. Auch im Süden um Bagdad, Kerbela und Basra müssen Zugang zu einfacher Basisinfrastruktur, zu Bildung, zu Gesundheitssystemen für alle Bevölkerungsgruppierungen gleichermaßen geschaffen werden. Damit einhergehend braucht es rechtsstaatlichen Strukturen und robuste Maßnahmen, um Korruption und Vetternwirtschaft auf allen Ebenen einzudämmen.

Der Wiederaufbau sowie die Förderung des friedlichen Miteinanders der verschiedenen irakischen Bevölkerungsgruppen in den vom IS zerstörten Gebieten muss mit aller Kraft vorangetrieben werden, damit die hunderttausenden Binnenvertriebenen baldmöglichst wieder in ihre Häuser, Dörfer und Städte zurückkehren können und radikale, gewaltbereite Kräfte nicht wieder stark werden.  Einkommensschaffende Maßnahmen sowie Beschäftigungsförderung im ganzen Irak, vor allem aber in zerstörten Gebieten sind dringend notwendige Maßnahmen, um Perspektiven vor allem für die arbeitslose Jugend zu schaffen und nachhaltig und längerfristig die Befriedung der Region vorantreiben zu können.

Die Versorgung der Flüchtlinge aus Syrien bleibt eine Aufgabe für zivile Hilfe, da weiterhin Menschen aus dem Nachbarland im Irak Zuflucht suchen.

Wie wird das forumZFD-Programm im Nord-Irak die Menschen unterstützen, die Folgen der Gewalt zu bewältigen und Frieden aufzubauen?

Unser Programm zielt darauf ab, ein friedliches Miteinander aller Bevölkerungsgruppen im Irak zu fördern. Wir konzentrieren uns dabei zunächst auf die vom IS befreiten Gebiete im Nordirak im Gouvernement Ninewa sowie in Teilen der Autonomen Region Kurdistan.

In der Region gibt es eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen, die wichtige Beiträge zur Förderung des Miteinanders über ethnische, soziale und politische Grenzen hinweg leisten. Sie sind jedoch oft nicht darauf vorbereitet, in angemessener und sensibler Art und Weise mit Menschen umzugehen, die Gewalt erlebt haben. Außerdem sind die Akteure untereinander kaum vernetzt, Erfahrungen werden kaum aufgearbeitet und ausgetauscht. Wir wollen diese friedensfördernden Kräfte zusammenbringen und mit ziviler Konfliktbearbeitung unterstützen. Im Zuge dessen wollen wir insbesondere für Jugendliche und Frauen sichere Orte für Austausch schaffen und sie ermutigen und dabei unterstützen, stärker an friedensfördernden Prozessen teilzuhaben. Die Reintegration von Kindern und Jugendlichen, die Gewalt durch den IS erfahren haben, ist wichtig, um der Weitergabe von radikalen Ideologien entgegenzuwirken und gewaltfreien Umgang mit Konflikten zu lernen.

Langfristig wollen wir Aufarbeitung und Versöhnungsarbeit unterstützen. Hier möchten wir dazu beitragen, Mechanismen zur Vergangenheitsbewältigung zu etablieren, damit die Gewalterfahrungen und Menschenrechtsverletzungen systematisch in ihrer rechtlichen, politischen und psychosozialen Dimension aufgearbeitet werden können. Diese Arbeit muss bald beginnen und zugleich erfordert sie sehr langen Atem.

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