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„Dieses Gefühl ist nicht Hoffnung. Es ist Liebe.“

Interview mit dem ukrainischen Künstler Andrey Utenkov

Playback-Theater, eine Form der Improvisationskunst, kann Menschen in Krisensituationen dabei helfen, innere Kraft aufzubauen und traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. In der Ukraine hat das forumZFD im vergangenen Jahr seine Arbeit mit Theaterschaffenden durch eine neue Partnerschaft ausgebaut: Das Projekt ermöglicht es den Teilnehmenden, ihre Geschichten zu erzählen und von einer friedlicheren Zukunft zu träumen. Wir haben mit einem der Projektmacher, Andrey Utenkov, darüber gesprochen, was Kunst und Friedensarbeit verbindet.
Interview Ukraine Dream and Do
© privat

Herr Utenkov, gemeinsam mit dem forumZFD und Ihrem Kollegen Marat Mairovich führen Sie zurzeit das Projekt „Träumen und Handeln: Heilen mit Kunst“ durch. Sie sind selbst professioneller Theaterschauspieler und Performance-Künstler. Was hat Ihr Interesse für Kunst geweckt?

Ich habe mich schon als Kind für Kunst interessiert. Im Alter von drei Jahren habe ich mit dem Malen angefangen. Ich bin in der Ostukraine aufgewachsen, die Stadt heißt Lysychansk. Heute ist das Gebiet besetzt. Als ich in die Schule kam, zeigte ich der Lehrerin meine Bilder – aber sie hat sie mit einem roten Stift durchgestrichen. Das war mein ‚Kindheitstrauma‘ (lacht). Danach habe ich die Malerei aufgegeben, aber Kunst blieb weiterhin mein Hobby, mein sicherer Rückzugsort. Während meines Ingenieursstudiums las ich sehr viel. Einmal lieh ich mir aus der Bibliothek “Zarathustra” von Friedrich Nietzsche. Das hat wirklich etwas in mir ausgelöst, wie eine innere Wandlung. Eines Morgens – da hatte ich bereits meinen Abschluss – wachte ich auf und sah diesen Lebensweg klar vor mir: ein normaler Beruf, zwei Kinder, ein Haus… Und ich verstand: Das ist nichts für mich. Noch am selben Tag ging ich zum Bahnhof, fest entschlossen, den nächsten Zug in eine größere Stadt zu nehmen. Um 12 Uhr fuhr ein Zug nach Odessa – also machte ich mich auf den Weg. Das war im Jahr 2009. Seitdem lebe und arbeite ich in Odessa.

Dort haben Sie zunächst klinische Psychologie studiert und mehrere Jahre als Therapeut gearbeitet. Aber dann haben Sie sich dem Theater zugewandt. Wie kam es dazu?

Ich war einmal mehr auf der Suche nach etwas Neuem in meinem Leben und habe an einem Playback-Theaterworkshop teilgenommen. Anschließend blieb ich mit einigen der anderen Teilnehmenden in Kontakt und wir sind gemeinsam aufgetreten. Ich bemerkte, wie glücklich mich das machte: Nach den Proben hatte ich immer gute Laune. Nach einigen Jahren fühlte ich mich bereit und voller Energie, um die Methode an andere Menschen weiterzugeben. Ich gründete mein eigenes Theater. Ich trat auch der „Ukrainischen Schule des Playback-Theaters“ bei und wir haben in verschiedenen ukrainischen Städten Theaterunterricht gegeben. Gleichzeitig habe ich mich verstärkt mit Performance-Kunst beschäftigt, in Anlehnung an Marina Abramovich, und ich habe auch in zeitgenössischen Theaterproduktionen mitgewirkt. So wurde mein Hobby zu meinem Beruf!

Was verbindet Kunst und Theater mit Friedensarbeit?

Ich möchte so antworten: Die Künstler*innen sind nicht diejenigen, die den Weg vorgeben. Vielmehr befinden sie sich an der Grenze zwischen zwei Gegensätzen. Zum Beispiel die Grenze zwischen Licht und Schatten, zwischen Gut und Böse… Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, was die Aufgabe von Künstler*innen ist und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie an dieser Grenze bleiben und die unterschiedlichen Ebenen dessen, was um sie herum passiert, genau wahrnehmen sollten – sie sollten die Spannungen zwischen den Gegensätzen fühlen. Ähnlich wie in der Kunst geht es bei Friedensarbeit aus meiner Sicht darum, an der Grenze zu bleiben und die Spannungen von allen Seiten wahrzunehmen. Das kann sich anfühlen wie eine Sackgasse. Ich habe das schon erlebt, zum Beispiel bei den letzten Präsidentschaftswahlen: Da wollte ich keinem der Kandidaten meine Stimme geben, aber auf dem Wahlzettel gab es keine dritte Möglichkeit. Eine verfahrene Situation! Aber wir können daraus etwas Künstlerisches schaffen: Ich habe einige Theater-Performances aufgeführt, um meine Gedanken auszudrücken. Das war meine Art, mich zu der Situation zu äußern. Solche Methoden können auch in der Friedensarbeit eingesetzt werden: Durch das Playback-Theater schaffen wir Räume um Erfahrungen und Geschichten zu teilen und über Konflikte, die politische Situation und andere Themen zu sprechen. Wir erschaffen Universen aus inneren Geschichten und wir tragen zum Frieden zwischen Menschen bei. Ja, ich denke wirklich, es geht dabei darum Frieden zu schaffen. Habe ich Ihre Frage beantwortet?

Ja, vielen Dank! Das bringt uns zu dem Projekt „Träumen und Handeln“: Hier setzen Sie Playback-Theater als Methode der Friedensarbeit ein. Wie ist das Projekt entstanden?

Mein Kollege Marat und ich hatten bereits in den vergangenen Jahren mit Online-Playback-Theater gearbeitet. Nach dem 24. Februar 2022 haben wir begonnen, noch regelmäßigere Treffen anzubieten. Ada vom forumZFD hat eines dieser Treffen besucht und vorgeschlagen, dass wir Partner werden. Gemeinsam haben wir das Konzept für „Träumen und Handeln“ entwickelt. Wie der Titel schon sagt: Wir träumen und dann versuchen wir, etwas Neues zu tun. Das ist eine sehr einfache Idee, aber für mich hat sie eine tiefgreifende Bedeutung, insbesondere für uns Ukrainer*innen in der derzeitigen Situation. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat in den neunziger Jahren das Konzept der Räume für Qualitätskommunikation entwickelt: Wir begegnen einander und daraus entsteht etwas Neues. In diesen Räumen drängen wir die Menschen nicht in eine Richtung und wir erwarten auch nichts Besonderes von ihnen. Wir akzeptieren einander einfach so, wie wir sind. Unser Projekt beruht auf dieser Idee.

Wie genau sehen diese Online-Treffen aus?

Innerhalb des Projekts bieten wir zwei Formate an. Das erste heißt „Anderthalb Räume im Krieg“. Die Treffen finden sonntags statt und sind zweigeteilt. Als erstes haben wir immer einen oder mehrere Gäste, zum Beispiel interessante Redner*innen, Musiker*innen oder Playback-Theatergruppen. Anschließend geht es ans Theaterspielen: Jemand aus dem Publikum erzählt eine Geschichte und die Schauspieler*innen verwandeln das Gehörte in eine kurze künstlerische Darbietung. Das kann ein kurzes Theaterstück sein oder eine andere kreative Ausdrucksform, etwa ein Gedicht. Manchmal machen wir aus der Geschichte ein Lied und wir malen sie sogar. Wir haben begonnen, mit verschiedenen Ausdrucksformen zu experimentieren, die wir bisher nicht in unserer Playback-Praxis verwendet hatten. An diesen Treffen nehmen bis zu 40 Personen teil. Die meisten kommen aus der Playback Community. Sie kommen alle aus der Ukraine, auch wenn manche von ihnen jetzt im Ausland leben.

Und worum geht es in dem zweiten Format?

Das zweite Format heißt „Playback Club“ und findet freitags statt. In diesen Treffen spielen wir kein Theater. Es ist eher ein Training oder ein Diskussionsclub. Die Gruppe ist kleiner mit maximal 10 Personen, da es ein sehr persönlicher Austausch ist. Manche der Teilnehmenden kommen aus der Playback Community, aber nicht alle. Die Treffen stehen allen Interessierten offen. Einige Teilnehmende haben über ihre Familie oder Freund*innen davon gehört, oder in den sozialen Netzwerken.

 

Wie wählen Sie die Themen für die Online-Treffen aus?

Die Themen sind immer unterschiedlich. Wir versuchen uns einzufühlen in das, was die Leute gerade bewegt und welche Themen sie interessieren könnten. In dem ersten Format, „Anderthalb Räume im Krieg“ hatten wir zum Beispiel Gäste, die über emotionale und psychische Gesundheit gesprochen oder Tipps zum Umgang mit Informationen und Propaganda gegeben haben. In manchen Treffen meditieren wir auch einfach. Manchmal laden wir internationale Theaterschaffende ein ihr Wissen mit der Gruppe zu teilen, zum Beispiel wie die Techniken von Clowns dabei helfen können, mit Krisensituationen umzugehen. Einmal hatten wir ehemalige Playback-Schauspieler*innen zu Besuch, die jetzt in der Armee dienen. Auch in dem zweiten Format, dem „Playback Club“, haben wir jede Woche ein anderes Thema. Wir haben zum Beispiel darüber gesprochen, wie wir in unserem persönlichen Umfeld mit Konflikten umgehen und wie wir unsere innere Stärke bewahren oder zurückgewinnen können.

Welche Arten von Geschichten erzählen die Teilnehmenden im Playback-Theater?

Das ist schwierig zu sagen. Es gibt so viele. In vielen Geschichten geht es um schwierige Entscheidungen: Soll ich in meiner Heimatstadt bleiben oder weggehen? Soll ich im Ausland bleiben oder zurück in die Ukraine gehen? In anderen Geschichten geht es darum, wie Menschen sich selbst verlieren und wiederfinden. Und dann gibt es viele Geschichten über Anpassung, sowohl in der Ukraine als auch im Ausland. Beobachtungen, wie sich unsere Leben verändern. In einer der letzten Sitzungen hat beispielsweise eine Frau erzählt, wie sehr sie den Blick aus ihrem Fenster im Herbst vermisst. Sie kommt ursprünglich aus Dnipro und lebt nun in Kalifornien, wo immer Sommer ist.

Wie ist die Atmosphäre in diesen Treffen?

Ich denke, die Teilnehmenden empfinden einen starken Zusammenhalt, ein „Wir-Gefühl“. Es ist fast, als würden wir zuhause am Tisch zusammensitzen. Die Regelmäßigkeit der Treffen vermittelt Stabilität und Sicherheit: Viele Teilnehmende kommen jede Woche und sie wissen, was sie erwartet. Marat und ich nutzen die Methoden des Playback-Theaters, um einen Raum zu schaffen, in dem sich die Leute sicher und gehört fühlen. Wir hören ihren Geschichten sehr aufmerksam zu. Marat ist außerdem ein guter Musiker und er kann die Atmosphäre durch Musik gestalten. Natürlich sind einige der Geschichten sehr schwierig oder handeln sogar von Traumata. Aber die Teilnehmenden haben das Gefühl, dass sie darüber sprechen können. Und wenn dann die Schauspieler*innen mit ihrer Performance beginnen, kann es passieren, dass sich das Trauma wie von Zauberhand in ein Kunstwerk verwandelt.

Wie wichtig ist die Unterstützung des forumZFD für das Projekt?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass das forumZFD auf uns aufmerksam geworden ist. Das zeigt die Anerkennung für unsere Arbeit und gibt uns das Gefühl, dass wir international vernetzt sind. Die finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig, denn sie ermöglicht es mir, mich voll und ganz auf dieses Projekt und auf andere Kunstformen zu konzentrieren. Ich muss nicht parallel nach anderen Jobs suchen. Was wir am forumZFD sehr schätzen, ist, dass sie uns nicht in diese oder jene Richtung drängen – sie vertrauen uns, dass wir unseren eigenen Weg gehen. Auch auf der persönlichen Ebene haben wir sehr gute Beziehungen zu den Projektmanagerinnen Ada und Sveta. Das ist eine große Unterstützung.

In einem früheren Projekt – vor der Eskalation des Krieges im Februar 2022 – haben Sie gemeinsame Online-Treffen für Teilnehmende aus der Ukraine und aus Russland veranstaltet. Sehen Sie eine Chance, dass irgendwann in der Zukunft solche Treffen wieder möglich werden?

Tatsächlich hatten wir sogar noch in den ersten Treffen kurz nach dem 24. Februar eine gemischte Gruppe mit russischen und ukrainischen Teilnehmenden. Aber dann haben wir uns entschieden, für die weiteren Treffen nur noch Menschen aus der Ukraine einzuladen. Denn es war für sie sehr schwer geworden, im selben Raum mit den russischen Teilnehmenden zu sein. Für Marat und mich war das keine leichte Entscheidung. Viele meiner Freund*innen aus der Playback Community kommen aus Russland. Bei einem internationalen Festival in der Türkei sind wir diesen Sommer sogar gemeinsamen aufgetreten – mit Playback-Schauspieler*innen aus der Ukraine, aus Russland und aus den besetzten Gebieten. Ich hoffe sehr, dass wir eines Tages wieder in einen Dialog treten können. Aber wir können die Menschen in der Ukraine nicht dazu drängen, einen solchen Dialog zu führen – dies würde nur Widerstände erzeugen.

Glauben Sie, dass Kunst und Theater dabei helfen können, die Wunden des Krieges zu heilen?

Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles so kompliziert ist und nichts wirklich helfen kann. Bildhaft gesprochen: Wenn du auf einen Berg kletterst und den Gipfel sehen kannst, dann weißt du, dass es einen Weg gibt. Das motiviert. Aber wir sind wie im Nebel – wir sehen nicht einmal den Berg. Und manchmal denke ich, dass all unsere Bemühungen nicht ausreichen. Es gibt viel materielle Hilfe für die Ukraine, aber nicht genug mit Blick auf emotionale und psychologische Unterstützung. Wenn ich mit Psycholog*innen in der Ukraine spreche, habe ich den Eindruck, dass niemand wirklich weiß, was zu tun ist. Andererseits höre ich in unseren Treffen die Geschichten der Teilnehmenden und ich sehe, wie sich Tränen in einen glücklicheren Gemütszustand verwandeln. Und dann denke ich, dass diese Treffen tatsächlich etwas Gutes bewirken für die Teilnehmenden.

Gibt Ihnen das Hoffnung?

Ich weiß nicht, ob es Hoffnung ist (Andrey Utenkov hält lange inne um über die Frage nachzudenken). Es gibt mir das Gefühl, dass wir miteinander in Kontakt sind, dass wir das gemeinsam durchstehen, dass ich nicht alleine bin. Dieses Gefühl ist nicht Hoffnung. Es ist Liebe.

Das Gespräch führte Hannah Sanders.

Hintergrund: Playback-Theatre

Playback-Theater ist eine Form des Improvisationstheaters. Entwickelt wurde diese Methode in den 1970er Jahren von dem US-Amerikaner Jonathan Fox und dem Neuseeländer Jo Salas. Zunächst erzählt eine Person aus dem Publikum ein persönliches Erlebnis. Anschließend setzen die Schauspieler*innen diese Geschichte in Szene. Playback-Theater kann in der Friedensarbeit eingesetzt werden, zum Beispiel um in Konfliktsituationen Perspektivwechsel zu ermöglichen.

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