Zurück zum Programm Libanon

Explosion in Beirut

Acht Wochen nach der Katastrophe

Am 4. August kam es zu einer verheerenden Explosion im Beiruter Hafen. In Folge starben mehr als 200 Menschen, und es gibt immer noch Vermisste. Tausende wurden zum Teil schwer verletzt. 300.000 Menschen wurden obdachlos, ganze Stadtviertel blieben verwüstet zurück. In einem Blog wenige Tage nach der Katastrophe berichteten unsere Kolleg*innen im Libanon über die Situation vor Ort. Acht Wochen danach teilen Kolleg*innen erneut ihre Gedanken. Mariella Biegeler und Jenny Munro haben vor Ort für uns Eindrücke und Einschätzungen zusammengetragen.
Explosion in Beirut
© forumZFD/Munro

In den acht Wochen nach der Explosion ist vieles passiert und gleichzeitig hat sich nichts bewegt. Die Aufräumarbeiten, humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe sind weit vorangeschritten. Eine Vielzahl an lokalen Initiativen versorgt diejenigen, die fast alles verloren haben, mit dem Notwendigsten, darunter Essen und Wasser. Manche bieten medizinische und psychosoziale Unterstützung an. Andere vermitteln neue Wohnungen, bauen Häuser und Geschäfte wieder auf oder säubern und recyceln zersplittertes Glas und Trümmer. Die Maßnahmen werden fast ausschließlich von zivilgesellschaftlichen Akteuren geleitet. Die libanesische Armee, die seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes die offizielle Koordination übernommen hat, leistet lediglich einen kleinen staatlichen Beitrag zur Bewältigung der Katastrophe. Das Internationale Rote Kreuz übernimmt weiterhin die Führung der Katastrophenhilfe, in Kooperation mit der Armee und der Zivilgesellschaft. 

Die Aufräum- und Reparaturarbeiten sind jedoch noch lange nicht abgeschlossen und werden noch Monate, wenn nicht Jahre in Anspruch nehmen. Die sonst belebten Straßen der betroffenen Viertel sind wie leergefegt. Überall in Beirut hat man das Gefühl, weniger Menschen sind unterwegs. Wer die Möglichkeit hat, flüchtet aus der Stadt, ob für einen Abend, eine Woche oder den ganzen Sommer. Auch wenn einige Geschäfte, Restaurants und Bars langsam wieder öffnen, ist es schwer, in den Alltag zurückzufinden. Nicht nur Beirut und ihre Bewohner hat die Explosion getroffen, auch das soziale und kulturelle Leben leidet. Beirut fühlt sich seit dem 4. August anders an. 

Ein erneuter Brand im Hafen Anfang September versetzte die Bevölkerung erneut in Angst und Schrecken. Viele flüchten aus der Stadt.

Die Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Wut der ersten Wochen sind nicht gewichen, allerdings haben sich Frustration, Hoffnungs- und Ausweglosigkeit dazu gesellt. Der Bevölkerung bleibt keine Atempause, um das Erlebte zu verarbeiten, denn ein Ereignis reiht sich an das Nächste: Bewaffnete Auseinandersetzungen verfeindeter Gruppen; Kampfflieger, die über Beirut kreisen, wecken bei Bewohnern Assoziationen von Krieg; ein Großbrand am Hafen, der die Geschehnisse des 4. Augusts in vielen wieder aufkommen lässt und sie aus Angst vor weiteren Explosionen in die Flure ihre Häuser treibt. Auch strukturelle Krisen bleiben nicht aus. Flächendeckend fallen staatliche Dienstleistungen aus: vermehrte Stromausfälle versetzen ganze Viertel für Stunden ins Dunkel. Die Müll- und Trümmerentsorgung verläuft schleppend.

Seit Wochen steigen auch die Zahlen der COVID-19 Fälle und brechen tägliche Rekorde. Die Übergangsregierung scheint nicht in der Lage zu sein, starke Maßnahmen zu erlassen und diese gegenüber der Bevölkerung und des Wirtschaftssektors durchzusetzen. Die Stagnation der Wirtschaft hält an, Inflationsraten steigen, die Währung hat inzwischen 80% ihres Marktwertes verloren. Der politische Wandel, der seit Oktober 2019 laut im Land gefordert wird, steht aus. Die politischen Eliten halten an dem Status Quo fest und treiben viele Menschen mit mangelnden Möglichkeiten und Perspektiven aus dem Land. 

Der politische Stillstand zeigt sich auch in den Ermittlungen zur Explosion. Eine nationale Untersuchungskommission, die bereits kurz nach den Ereignissen eingerichtet wurde, hat bislang noch keine Ergebnisse geliefert. Aufgrund enger persönlicher und politischer Verbindungen zur Elite spricht die Zivilbevölkerung der Kommission die Unabhängigkeit ab. Stimmen, die eine unabhängige Ermittlung fordern, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, setzen nicht aus. Viele Vertreter der Zivilbevölkerung beteiligen sich am Kampf gegen die Kultur des Vergessens, tragen in verschiedenen Initiativen Geschichten der Betroffenen zusammen und gedenken den Opfern und Verstorbenen.

Eine Reaktion der Regierung bleibt aus. Der Rücktritt der Premierministers Hassan Diabs wenige Tage nach der Explosion führte zwar zur Auflösung des Kabinetts. Der neu ernannte Premierminister Mustafa Adib, ehemaliger Botschafter des Libanons in Deutschland, konnte aufgrund von zwischenparteilichen Differenzen jedoch kein neues Kabinett präsentieren und trat daher am 26. September zurück. Die gescheiterte Regierungsbildung verdeutlicht erneut die tiefen politischen Spaltungen des Landes sowie die geringe Reform- und Kompromissbereitschaft der politischen Eliten. 

Es ist unklar, wie es nun politisch im Libanon weiter gehen wird. Die Zivilgesellschaft hat wenig Vertrauen, dass eine neue Regierung zu einem politischen Wandel führen würde. Regelmäßig ruft sie daher zu Demonstrationen auf, um grundlegende Reformen des politischen Systems zu fordern. Während der Proteste kommt es häufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Armee, wobei auch Waffen gegen Protestierende eingesetzt werden. Diese Übergriffe wurden von (internationalen) Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch zutiefst verurteilt. 

Vollständig durch die Explosion zerstörte Fenster eines Bürogebäudes in Beirut.

Die lang bekannten tief verwurzelten Defizite im Land kommen immer mehr zur Oberfläche und verbreiten vermehrt das Bewusstsein und den Wunsch in der Bevölkerung nach langfristigen, strukturellen Veränderungen. Im Angesicht verschiedener Formen von Gewalt – strukturell, emotional, politisch, physisch, kulturell – und des Widerstandes der politischen Elite bedarf es eines langen Atems und vieler Initiativen auf unterschiedlichsten Ebenen, um die Spaltungen und Differenzen im Land zu überbrücken. Es braucht den notwendigen Raum für politische Diskurse und die Unterstützung von Aktivisten, um längst überfällige Veränderungsprozesse voranzubringen. Das ist einer der zentralen Gründe dafür, warum die mittel- und langfristige Unterstützung, wie sie durch den Zivilen Friedensdienst geleistet werden kann, so wichtig ist. Bekräftigt durch die individuellen Spenden von Unterstützenden des forumZFD hat das Libanon-Team einen Aufruf gestartet, um insbesondere kleine Initiativen auf Gemeindeebene zu unterstützen, die auf die Solidarität der Beiruter Bevölkerung bei der Krisenbewältigung setzen und die gleichzeitig den langfristigen erforderlichen grundsätzlichen Wandel für das Land im Auge behalten.

Kunstwerke als Ausdruck des Zorns der Bevölkerung verbleiben nach den Protesten auf dem zentralen Platz in Beirut.

Zurück zum Programm Libanon