Catrin, wie geht es dir und dem Team im Libanon nach den Geschehnissen der letzten Wochen?
Ich glaube, ich kann hier für das Team sprechen, wenn ich sage, dass wir nach der weiteren Eskalation der Gewalt in Nahost in großer Sorge sind. Viele von uns haben schon seit Oktober letzten Jahres befürchtet, dass sich die Gewalt in Gaza, dem Westjordanland und über die Region hinaus ausweiten wird und dass sie auch in anderen Ländern zu Polarisierung und Auseinandersetzungen führt. Leider hat sich dies bewahrheitet.
Bereits seit Oktober letzten Jahres hören wir praktisch täglich von militärischen Auseinandersetzungen an der libanesisch-israelischen Grenze und auch zunehmend in anderen Landesteilen. In den letzten Wochen hat sich die Situation erheblich verschärft und wir erleben inzwischen fast täglich Momente der Angst, manche ‘nur’ durch die Überschallflüge der israelischen Armee, andere erleben Angriffe auch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Generell scheint mir, dass das Leid in Gaza uns alle mindestens so sehr beschäftigt wie die eigene Bedrohungssituation. Und natürlich hängt beides unmittelbar zusammen.
Als Friedensfachkräfte denken wir aber immer auch voraus und überlegen uns, wie nach all dieser Gewalt, die nun ja auch direkt in den sozialen Medien mitverfolgt wird, das Vertrauen in die jeweils andere Seite und in humanitäre Werte wieder aufgebaut werden kann. Es wird neben (internationalen) Gerichtsverfahren, die die Täter zur Rechenschaft ziehen, auch sehr viel individuelle Therapie und Versöhnungsarbeit zwischen verschiedenen Gruppen brauchen.
Und nach allem, was wir über kollektives und transgenerationales Trauma wissen, ist uns auch klar, dass all dies sich auf zukünftige Generationen auswirken wird. Alle, die Gewalt ausüben und erleben, und vermutlich sogar viele, die sie indirekt mitverfolgen, werden ihre oft traumatischen Erfahrungen an die nächste Generation weitergeben und es wird eine große Aufgabe, hier Heilung zu unterstützen.
Frieden braucht Sie!
Danke für Ihre Unterstützung
Wie ist die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung?
Es ist natürlich vermessen, für alle Menschen hier sprechen zu wollen. Man muss bedenken, dass es bereits ca. 540 Tote auf der libanesischen Seite gibt, dass über 90.000 Personen in den letzten Monaten ihre Dörfer im Süden des Landes verlassen mussten, von denen viele auch durch die Zerstörung ihrer Häuser und landwirtschaftlicher Flächen ihre Lebensgrundlage verloren haben. Aber auch bei denen, die nicht unmittelbar betroffen sind, bringt diese aktuelle Bedrohungssituation und insbesondere die regelmäßigen militärischen Überflüge der israelischen Armee die Erinnerungen an den Bürgerkrieg und frühere Traumata immer wieder hoch. Viele, die es sich leisten können, verlassen zumindest zeitweise das Land oder die besonders gefährdeten Gebiete. Aber selbst für diese privilegierten Menschen ist es eine Zeit der Angst und Unsicherheit und ein ständiges Abwägen, wo man selbst und die geliebten Menschen die größtmögliche Sicherheit finden können.
Gleichzeitig haben viele in der Region aufgrund früherer Kriegserfahrungen eine besondere Fähigkeit entwickelt, mit Unsicherheit und Bedrohung umzugehen und besonders diejenigen, die weniger finanzielle Möglichkeiten haben, ergeben sich sozusagen ihrem Schicksal und leben ihr Leben so ‘normal’ wie möglich weiter.
Hat die Zuspitzung der Lage Auswirkungen auf eure Arbeit und die eurer Partner?
Ja, natürlich sind alle Beteiligten insgesamt angespannt, besorgt und weniger konzentriert als üblich. Es gibt kaum Planungssicherheit, was zu mehr Aufwand führt, beispielsweise müssen Veranstaltungen verschoben oder neu konzipiert werden. Es ist auch eine besondere Herausforderung, zum Beispiel für die Moderatoren von Trainings, die eigenen Gefühle und den Schmerz soweit zu ‚bearbeiten', um dann mit den Emotionen umzugehen, die Teilnehmende in die Veranstaltungen mitbringen.
Auf einer tieferen Ebene hat aber die nun so offensichtliche Gewalt in der Region Auswirkungen darauf, wie offen Menschen für gewaltfreie Ansätze sind. Es gibt jene, die gerade jetzt diese Alternative suchen und auch viele, die versuchen, in Ermangelung des ‚äußeren Friedens‘ zumindest den ‚inneren‘ zu finden, sei es durch Therapie, Yoga oder andere Heilmethoden. Und es gibt natürlich auch jene, deren Hoffnungen zerstört sind, weil sie aus der gegenwärtigen Gewalt schließen, dass ohnehin immer die Stärkeren, das heißt die mit mehr Waffen und Macht, gewinnen werden.
Wie findet Friedensarbeit aktuell statt?
Die Friedensarbeit ist definitiv schwieriger geworden, obwohl die Arbeit des Landesbüros auf innerlibanesische Konflikte fokussiert ist und bleibt. Aber die Eskalation seit den Anschlägen am 7. Oktober letzten Jahres beeinflusst unsere Arbeit natürlich. Vielleicht ist ‚vorsichtig‘ das passende Wort, um die derzeitige Herangehensweise zu beschreiben. Friedensarbeit bedeutet immer, den Verletzungen, Schmerzen und Narrativen aller Raum zu geben und diese anzuerkennen. Erst im Vertrauen, dass das eigene Leid gesehen und verstanden wird, können sich Menschen auf die Verarbeitung des Erlebten und Heilung und damit dann irgendwann wieder auf Gespräche mit der ‘Gegenseite’ einlassen. Heute ist das (nicht nur im Libanon) schwieriger geworden, weil ‘westliche’ Organisationen mit dem Verdacht der Parteinahme zu kämpfen haben.
Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen hat es das forumZFD im Libanon weitgehend geschafft, sich das Vertrauen der Partner zu erhalten. Generell ist aber leider zu beobachten, dass ‚der Westen‘ und insbesondere Deutschland in und auch über die arabische Welt hinaus in den letzten Monaten einen großen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten hat. Die ‘westliche’ Reaktion auf Urteile und Empfehlungen internationaler Gerichte und die Auslegung des Völkerrechts oder des internationalen Waffenkontrollgesetzes werden von einem Großteil der Gesellschaft kritisiert. Viele beklagen hier einen Widerspruch zwischen Deutschlands Werben für Demokratie und Menschenrechte einerseits und der (auch militärischen) Unterstützung der israelischen Regierung und ihrer Armee andererseits.
Wie immer in der Transformation von Konflikten geht es auch hier nicht darum, alle Sichtweisen notwendigerweise zu teilen, sondern sie anzuerkennen, um überhaupt eine Offenheit für Dialog zu schaffen. Der eigentlich bedeutsamste und oft sehr emotionale Schritt der Konfliktbearbeitung ist dann, von einseitigen Narrativen und gegenseitigen Beschuldigungen auf die Ebene der Bedürfnisse zu kommen. Dort finden Konfliktparteien immer Gemeinsamkeiten oder zumindest Verständnis, denn eigentlich sehnen sich alle Beteiligten meist hauptsächlich nach Sicherheit, Frieden und Freiheit und können damit auch diese Bedürfnisse der anderen anerkennen. Schwierig ist daran allerdings, den Mut aufzubringen, diese Verletzlichkeit zuzulassen. Unsere Rolle ist es daher gegenwärtig, das Vertrauen für solche Dialoge so weit wie möglich zu erhalten, indem wir immer wieder zeigen, dass uns die schmerzlichen Erfahrungen, das Leben, die Sicherheit und die Freiheit aller Menschen gleich wichtig sind.
Auch über den Libanon hinaus, wieso ist Friedensarbeit aktuell so wichtig?
Auch wenn es derzeit schwierig ist zu sehen, wie unsere Arbeit der Gewaltspirale und der auch global wieder zunehmenden Militarisierung entgegenwirken kann, so ist es gerade jetzt von größter Bedeutung, zum Teil aber sogar gefährlich, sich für Frieden auszusprechen. Wie so oft in der Geschichte von Kriegen werden auch heute die als Verräter gebrandmarkt, die sich für Verständigung einsetzen. Dies gilt insbesondere auch für die vielen (jüdischen) Aktivist*innen, für die klar ist, dass die Sicherheit Israels und jüdischer Menschen überall in der Welt nicht auf militärischem Weg zu erreichen ist und die sich daher für diplomatische Lösungen einsetzen. Für sie hat die Geschichte klar gezeigt, dass Gewalt leider immer nur weitere Gewalt erzeugt.
Die Stimmen für Frieden zu unterstützen und idealerweise zu verstärken ist das, was wir nun tun können.
An dieser Stelle möchte ich auf einige der Organisationen hinweisen, in denen sich Israelis, Israelinnen und Palästinenser*innen für Verständigung und Frieden einsetzen. Ich glaube, es kann auch vielen Leser*innen Hoffnung geben, über die Arbeit zum Beispiel der Combatants for Peace, the Parents Circle, Jewish Voice for Peace, Standing Together, Breaking the Silence und B’Tselem zu erfahren.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir Frieden. Positiven Frieden im Sinne von Johan Galtung, also nicht nur die Abwesenheit von Krieg oder direkter physischer Gewalt, sondern soziale Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften.
Ich wünsche mir, dass viel mehr Menschen erkennen, wie sich Konfliktdynamiken im Kleinen und im Großen und überall auf der Welt ähneln. Es ist doch bedenkenswert, dass Gewalt immer auf der anderen Seite stattfindet. Was wir selbst tun, sehen wir immer als Selbstverteidigung. Und das gleiche gilt natürlich für die ‚Gegenseite‘. Im Kleinen wie im Großen bringt uns also die Angst vor den jeweils anderen dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die die Gegenseite als Bedrohung sieht und so entwickelt sich Furcht ganz schnell zu einer Spirale der Gewalt und Gegengewalt. Frieden also braucht sehr viel Mut. Mut, trotz Angst die Waffen und Schutzschilde zu senken. Mut, sich verletzlich zu zeigen. Mut, den ersten Schritt zu machen. Mut, Narrative zu hinterfragen und neue Visionen zu entwickeln. Mut, sich der jeweiligen Mehrheitsmeinung, wenn nötig, entgegenzustellen. Und schließlich braucht es auch sehr viel Mut, sich mit den eigenen Ängsten und Verletzungen auseinanderzusetzen, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen. Diese Heilung wiederum ist allerdings unabdingbar sowohl für unseren inneren als auch den Frieden zwischen den Menschen. Vielleicht ist es daher erst einmal Mut, den ich uns allen wünsche.
Das Interview führte Vanessa Kirsch.
Unsere Arbeit im Libanon
Das forumZFD engagiert sich mit einer Reihe von Projekten im Libanon, um Dialog, Integration und Bildung zu fördern. Diese Initiativen tragen dazu bei, soziale und kulturelle Barrieren zu überwinden, die oft zu Konflikten führen. Damit helfen sie, einen Grundstein für eine stabile und harmonische Gesellschaft zu legen.
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