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Von der Klippe auf den Gipfel

Ein Theaterprojekt in Jordanien hilft Jugendlichen auf ihrem Lebensweg

Jordanien ist ein Land mit einer jungen Gesellschaft. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Gleichzeitig ist die Jugendarbeitslosenquote extrem hoch: 2022 lag sie bei 36,4 Prozent. Die jordanische Jugend leidet unter der Gesamtsituation im Land. Die große Anzahl Geflüchteter aus den benachbarten Konfliktgebieten und die Knappheit der natürlichen und finanziellen Ressourcen beeinflussen ihre Lebensrealität. Raum für Beteiligung und Kreativität bleibt da kaum. Das will eine Partnerorganisation des forumZFD ändern.
Von der Klippe auf dem Gipfel (Magazin 23/3) 1
© forumZFD

Das Licht ist aus, kein Geräusch ist zu hören. Die Blicke auf die Bühne gerichtet, warten alle darauf, was als Nächstes passiert. Jeder Stuhl ist besetzt, die Luft im Raum knistert vor Spannung.

Auch Maisam Naser hat Lampenfieber. Sie ist soziale Aktivistin, Unternehmerin und Theaterschauspielerin. Die Lebensumstände von Jugendlichen in ihrem Land Jordanien haben sie 2016 veranlasst, „Wahj Al Shams“ (Sonnenschein) zu gründen. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten durch Kunst und Theater ein.

Rebellische Hippies

„In Jordanien hat Kunst einen schlechten Ruf. Nur wenige Menschen verstehen und schätzen die Kunst und ihre Wirksamkeit für einen positiven gesellschaftlichen Wandel“, erklärt Maisam. „Die Menschen hier glauben, dass Kunst und Kunstschaffende ihre eigenen versteckten Absichten haben, die weit von unserer Kultur und deren Werten entfernt sind. Kreative werden als rebellische Hippies mit unsicherem Einkommen missverstanden. Viele junge Kreative befürchten, kein ausreichendes Einkommen zu haben und ihre Familien nicht versorgen zu können.“

Maisam hat es trotzdem geschafft, obwohl sie es als Frau noch schwerer hatte. „Viele Künstlerinnen haben Ausbeutung und Belästigung erlebt, so auch ich.“ Ihre Stimme bebt, als sie das sagt, und über ihr Gesicht fliegt ein Ausdruck von Härte und Traurigkeit.

Sie gründete Wahj Al Shams, um einen Zufluchtsort für aufstrebende Kunstschaffende und talentierte Jugendliche zu schaffen. „Ich wollte eine kleine und sichere Gemeinschaft aufbauen, in der sie Theatererfahrung sammeln, ihre sozialen Fähigkeiten verbessern, sich frei ausdrücken und aktive Mitglieder der Gemeinschaft sein können“, sagt sie. „In Jordanien fehlt es an Räumen für Jugendliche, die für ihre körperliche, soziale, kognitive und emotionale Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind.“

Das Theaterspielen stärkt das Selbstwertgefühl der jungen Teilnehmenden und hilft ihnen in ihrer persönlichen Entwicklung – davon ist Gründerin Maisam Naser überzeugt.

Am Anfang war der Weg für Wahj Al Shams holprig. Damals hatte Maisam nicht die finanziellen Möglichkeiten, ein Büro oder einen Übungsraum zu mieten. „Ich weiß noch, wie schwer es für uns war, in öffentlichen Räumen zu proben und aufzutreten. Manchmal waren die Bedingungen wirklich hart, aber das hielt uns nicht davon ab, unsere Träume zu verwirklichen. Damals wollten wir nur gesehen und gehört werden, und wir wollten, dass die Menschen verstehen, was Kunst und Theater wirklich bedeuten“, sagt sie.

Gleiche Chancen für alle

Sechs Jahre später verfügt die Organisation über ein eigenes Büro und hat mehr als 840 eingeschriebene Schüler*innen. Der Fokus liegt nach wie vor darauf, Jugendlichen aus allen Gesellschaftsschichten in Jordanien gleiche Chancen zu ermöglichen. Gleichzeitig will Wahj Al Shams eine respektvolle, vielfältige und integrative Kunstgemeinschaft aufbauen, in der jede*r ohne Vorurteile willkommen ist und akzeptiert wird.

Einige der Teilnehmenden werden als gefährdete Jugendliche eingestuft. Sie sind Opfer häuslicher Gewalt, zeigen auffällige Verhaltensweisen, wie etwa Drogenmissbrauch und Schulabbruch, oder leiden an psychischen Störungen. Und genau das thematisiert Wahj Al Shams auch in seinen Stücken. So können die Jugendlichen sich auf kreative Weise und in einem geschützten Umfeld mit den gesellschaftlichen Problemen ihrer Generation auseinandersetzen.

In den Theaterstücken von „Wahj Al Shams“ wirken Jugendliche aus allen Gesellschaftsschichten in Jordanien mit.

Der Vorhang öffnet sich. Stück für Stück erweitert sich der Blick auf die Bühne: mehrere Sitzgruppen aus Kunststoff-Rattan Möbeln, ein Mülleimer, im Hintergrund eine Backsteinwand. Grelles Licht von oben. An manchen Tischen sitzen junge Menschen, mal im Grüppchen, mal allein über ein Buch gebeugt.

Das Theaterstück, das heute gezeigt wird, heißt „The Suitcase“ (Der Koffer). Eine Gruppe junger Student*innen trifft sich in der Cafeteria. Unter einem der Tische entdecken sie einen mysteriösen Koffer. Sie fragen sich, was in dem Koffer sein könnte. Vielleicht verbirgt sich darin ja ein wertvoller Schatz? Doch der Koffer lässt sich nicht öffnen.

Theater ist immer der Ort gewesen, an dem ich der Realität für einen Moment entkommen konnte. Da konnte ich die sein, die ich in meinen Träumen werden wollte.

Bara'a Abu Khalid, Teilnehmerin

Auftritt Fathiyyeh. Die Haare mit einem bunten Tuch und Spangen aus dem Gesicht gebunden, die Schürze ebenso bunt geblümt. Vor sich her schiebt sie einen Wischmopp.

Fathiyyeh heißt eigentlich Bara'a Abu Khalid. Und im richtigen Leben ist sie auch keine Reinigungskraft, sondern Schauspielerin. „Als ich 12 Jahre alt war, habe ich mit der Schauspielerei angefangen. Theater ist immer der Ort gewesen, an dem ich der Realität für einen Moment entkommen konnte. Da konnte ich die sein, die ich in meinen Träumen werden wollte. Vor sieben Monaten entdeckte Maisam mich bei einer Theateraufführung. Sie bot mir an, in ihr Team zu kommen.“ Bara’aAbu Khalids Augen strahlen, während sie spricht. „Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt und glücklich ich war. Für diese Möglichkeit werde ich ewig dankbar sein. Auf der Bühne fühle ich mich lebendig und dieses Gefühl möchte ich nie wieder missen.“

Zwischen 15 und 25 Jahren alt sind Maisams Schüler*innen. Sie weiß, dass es in dem Alter einfacher ist, negative Verhaltensmuster zu ändern, da die Persönlichkeiten, Ideen und Überzeugungen noch in der Entwicklung sind. Mit ihrer Arbeit will sie den Jugendlichen die Möglichkeit geben, sich selbst auf kreative Art und Weise auszudrücken.

Das Selbstwertgefühl stärken

Neben der Theaterarbeit bietet die Organisation auch psychosoziale Unterstützung an. „Das hilft unseren Schüler*innen, ihre Probleme anzugehen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und den richtigen Weg zu finden. Manche Fälle übersteigen unsere Kapazitäten. Dann holen wir professionelle Unterstützung aus einem Netzwerk vertrauenswürdiger Psycholog*innen, das wir uns aufgebaut haben“, erklärt Maisam. „Wir sind sehr stolz darauf, dass wir durch unsere Arbeit vielen jungen Menschenhelfen  konnten, von der Klippe zum Gipfel zu gelangen.“

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„Wir sind sehr stolz darauf, dass wir durch unsere Arbeit vielen jungen Menschen helfen konnten“

Maisam Naser (links im Bild)

Mustafa Al Souan ist einer ihrer Schützlinge. In „The Suitcase“ spielt er einen Studenten in schwarzer Hose und hellem Hemd unter einem grauen Pullunder. Er war durch eine Facebook-Anzeige auf Wahj Al Shams aufmerksam geworden. Es würden junge Künstler*innengesucht, hieß es dort. Mustafa bewarb sich. „Ich hätte nie gedacht, dass Wahj Al Shams mein Leben verändern würde. Bevor ich dem Team beitrat, kämpfte ich mit vielen Problemen in meinem Privatleben und auch mit meiner Gesundheit. Maisam, das Team und meine Freund*innen dort haben mir sehr geholfen. Ich betrachte sie jetzt als meine zweite Familie. Ich habe in meinem Leben noch nie eine ähnliche Unterstützung erfahren.“

Die Schauspieler*innen auf der Bühne haben sich um den Koffer versammelt. Zwei von ihnen zerren an den Griffen. Es gibt ein Gerangel, wildes Gestikulieren und laute Diskussionen. Die Stimmen sind klar, artikuliert. Jede Bewegung, die Mimik und Gestik sind perfekt einstudiert.

Voller Stolz verfolgt Maisam die Aufführung. Die Jugendlichen, die bei Wahj Al Shams eingeschrieben sind, bekommen nicht nur Schauspielunterricht. Unterstützt vom forumZFD bietet die Organisation seit einiger Zeit auch Workshops zu Themen wie Konfliktbewältigung und „Do No Harm“ an. Dabei lernen sie, darauf zu achten, dass durch ihr Handeln kein Schaden entsteht. Das trage sehr zu ihrer persönlichen Entwicklung bei, berichtet Maisam: „Ich bin überrascht, wie sehr die Jugendlichen davon profitieren. Zu sehen, wie sie auf einmal Begriffe wie Debatte und Dialog verwenden und verstehen, ist erstaunlich. Ich bin mir sicher, dass das Wissen und die Fähigkeiten, die sie jetzt haben, ihnen helfen werden, ihre Probleme besser zu bewältigen.“

Das bestätigt auch Mustafa. Er habe durch die Workshops viel gelernt, erzählt er: „Ich fühle mich jetzt furchtlos und in der Lage, alles zu tun, was ich will. Wahj Al Shams hat mir geholfen, gesünder zu werden und mir bewusster zu machen, welche Auswirkungen mein Verhalten auf mich und die Menschen um mich herum haben kann. Bevor ich mich dem Team anschloss, war ich sehr leichtsinnig und habe manchmal unangemessen gehandelt. Das hat mich in viele schwierige Situationen gebracht. Jetzt denke ich gründlich nach, bevor ich etwas unternehme, und ich stelle sicher, dass ich meine Entscheidungen in der Zukunft nicht bereuen werde.“

Maisam Naser (rechts im Bild) im Gespräch mit zwei Mitarbeiterinnen des forumZFD-Teams in Jordanien. Die Unterstützung durch die deutsche Friedensorganisation sei sehr wichtig, sagt die Aktivistin.

Obwohl die Lebensumstände für junge Menschen in Jordanien alles andere als einfach sind, lassen sich die Teilnehmenden bei Wahj Al Shams die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht nehmen. Die Unterstützung durch Partner*innen wie dem forumZFD ist dabei auf verschiedenen Ebenen wichtig. Für die eigene Professionalität ebenso wie die Wirkung auf das Publikum macht es einen großen Unterschied, ob Wahj Al Shams wie früher mit improvisierten Kostümen und ohne Dekoration auf einem öffentlichen Platz auftreten. Oder ob sie wie heute ein Bühnenkonzept mit Licht- und Tontechnik, passenden Requisiten und Kostümen zur Verfügung haben.

„Die Zusammenarbeit mit dem forumZFD hat uns viele Türen und Möglichkeiten geöffnet. Ihr partnerschaftlicher Ansatz ist anders als die Kooperationen, die wir zuvor hatten. Sie betonen immer, wie wichtig es ist, die Zielgruppen in die Projektgestaltung einzubeziehen.“ Maisam holt etwas aus: „Am Anfang war es schwer, zu verstehen, was mit einer Fokusgruppendiskussion gemeint ist und wie sie uns bei unserer Arbeit helfen kann. Jetzt wissen wir, dass wir damit eine bessere Verbindung zu unseren Zielgruppen aufbauen können. Wir verstehen ihre Bedürfnisse und können sie in unserer Arbeit berücksichtigen. Seitdem bekommen wir auch deutlich mehr positive Rückmeldungen aus dem Publikum. Viele Zuschauende sagen, dass sie sich mit Fällen und Personen identifizieren können, die wir auf der Bühne darstellen.“

Die hitzige Stimmung auf der Bühne lässt nach. Die Studierenden in der fiktiven Cafeteria haben verstanden, dass sie den Koffer nicht öffnen können, ohne ihre gesellschaftlichen Probleme zu thematisieren. Auch das Publikum wirkt nun ruhiger, nachdenklich. Mehrere Hände recken sich nach oben, um Aufnahmen mit dem Handy zu machen. Einige von ihnen gehören wahrscheinlich Eltern, Geschwistern oder Freund*innen der Schauspieler*innen.

Die jungen Schauspieler*innen sind stolz darauf, in der Aufführung mitzuspielen – und bekommen am Ende viel Applaus. Das Theaterspielen stärkt das Selbstwertgefühl der jungen Teilnehmenden und hilft ihnen in ihrer persönlichen Entwicklung – davon ist Gründerin Maisam Naser überzeugt.

Obwohl Wahj Al Shams seine Schüler*innen dazu befähigt, aktive Mitglieder der Gesellschaft zu werden, sind ihre Eltern und Familien manchmal immer noch gegen die Beteiligung ihrer Kinder an Kunst und Theateraktivitäten. Maisam versucht deshalb, die Familien in den Prozess einzubeziehen, indem sie sie zu den Theaterkursen und -Aufführungen einlädt. Sobald sie die positiven Auswirkungen auf ihre Kindersehen, steigt die Akzeptanz.

„Dank Wahj Al Shams konnten viele Schüler*innen ihr Leben ändern. Einer von ihnen zum Beispiel nahm ein narkotisches Medikament, um ein psychisches Problem zu behandeln. Er wurde einem unserer Psychologen betreut und nahm an Lebenskompetenz- und Theatertrainingsteil. Langsam konnte er die Einnahme der Medikamente einstellen, was für ihn und auch für uns einer der größten Erfolge war. In ähnlicher Weise haben wir rund 60 Prozent unserer Teilnehmenden, die die Schule abgebrochen hatten, geholfen, ihr Studium wiederaufzunehmen. Die meisten von ihnen studieren jetzt an Universitäten oder haben Berufsabschlüsse erworben“, schließt Maisam.

Als der Vorhang sich schließt, hallt der Applaus noch lange nach.

Das forumZFD Jordanien arbeitet seit 2021 mit Wahj Al Shams zusammen. Seitdem haben sie eine Reihe erfolgreicher Theaterstücke aufgeführt, die verschiedene gesellschaftliche Probleme beleuchten, darunter geschlechtsspezifische Gewalt, Mobbing, Kinderheirat, Drogenmissbrauch und Frauenrechte. „The Suitcase“ wurde bereits sechsmal in verschiedenen Regionen des Landes aufgeführt: unter anderen im Royal Cultural Center in der Hauptstadt Amman, an der Universität Balqa in Salt, beim Garage-Art-Projekt in Irbid und im Flüchtlingscamp Shlenner.

 

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