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Hausfriedensbruch

Jordanien: Friedensprojekt schützt Frauen und Kinder vor Gewalt

Gewalt in Familien hat während der Corona-Pandemie in vielen Ländern weltweit zugenommen. In der jordanischen Stadt Irbid unterstützt die Organisation „Land des Friedens“ betroffene Frauen und Kinder. Gemeinsam mit dem forumZFD hat das Team ein Pilotprojekt entwickelt, um an Schulen über das Problem aufzuklären und Kinder zu schützen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.
Jordanien Hauswand
© Julia Neumann

In den belebten Straßen reihen sich kleine Geschäfte aneinander: Cafés, ein Schreiner, eine Metzgerei. Gemüsehändler verkaufen auf Wägen frische Erdbeeren, ein Händler stapelt kunstvoll Bananen und Melonen zu kleinen Türmen auf Kisten, der Brotgeruch des Bäckers nebenan mischt sich mit den Autoabgasen. An diesem Frühlingstag im März herrscht reges Treiben in Irbid, der zweitgrößten Stadt in Jordanien, die nördlich von der Hauptstadt Amman liegt. Über 700.000 Menschen bilden eine vielfältige Gemeinschaft mit verschiedensten soziokulturellen Hintergründen. Geflüchtete und Arbeiter*innen aus Syrien, dem Sudan oder Ägypten haben in der Stadt ein neues Zuhause gefunden, eine renommierte Universität zieht junge Studierende an. Die Gebäude sind einheitlich in Sandstein gehalten. Sie sind maximal vier, fünf Stockwerke hoch und lassen einen Blick auf die Nachbarschaft zu. Auch wenn die Stadt groß ist, sind die Menschen hier gut vernetzt, erzählt Imad Al-Zaghoul, der Generaldirektor der jordanischen Nichtregierungsorganisation „Land des Friedens“, einem wichtigen Partner des forumZFD vor Ort.

Die Organisation hat ihren Sitz in einem hellblau und gelb gestrichenen Gebäude, das in einem kleinen Garten steht. Auf der Hausfassade lacht eine bunt gekleidete Frau auf einem Graffiti, am Eingang ranken sich Pflanzen an einem Holzgerüst empor. Das Haus ist ein beliebter Treffpunkt für Frauen und Jugendliche. In einer Küche bereiten Frauen essen zu – sie lernen, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Beruflich auf eigenen Beinen zu stehen, verspricht ihnen finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit. Im Nebenraum schaut eine Gruppe zu, wie ihre Trainerin eine Modellpuppe frisiert. Trockenhauben stehen dort, in einer Vitrine liegen Lockenwickler. Im Versammlungsraum treffen sich Jugendliche um über ihren Alltag, aber auch ihre berufliche Zukunft zu sprechen.

Bereits seit 2014 arbeitet „Land des Friedens“ in Irbid. Das fünfköpfige Team ist in der Stadt sehr gut vernetzt. „Wir kennen den Verkäufer am Kiosk, besuchen Frauen in ihrem Zuhause“, erzählt Projektmanagerin Lana Abu Snaneh. „Die Menschen vertrauen uns, rufen uns an, wenn sie Hilfe brauchen, erzählen uns ihre Geheimnisse. Wir bewahren diese Informationen und bieten Unterstützung an.“

Häusliche Gewalt ist ein großes Problem

Durch den persönlichen Austausch mit den Menschen hat die Organisation herausgefunden, dass häusliche Gewalt in Irbid ein großes Problem ist. „Seit zehn Jahren nimmt die Gewalt zu“, erzählt Generaldirektor Imad Al-Zaghoul. Die Gründe dafür seien vielfältig: Unter anderem erhöhten die geringen Chancen für junge Menschen auf einen gut bezahlten Job und die große Konkurrenz auf dem schwindenden Arbeitsmarkt die Frustration bei den Männern. „Ein wichtiger Faktor ist auch, dass die Frauen früher die Regeln und Gesetze nicht gut kannten“, fügt Projektmanagerin Abu Snaneh hinzu. „Aber nun kennen sie ihre Rechte und fordern diese ein. Die Männer jedoch denken, sie seien das stärkere Geschlecht, und üben umso mehr Druck aus.“ Ein weiteres Problem sei, dass die bestehenden Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern nicht zur Genüge implementiert würden.

In Jordanien sind nur einige Formen von Gewalt gegen Frauen unter Strafe gestellt. Kapitel 7 des Strafgesetzbuchs kriminalisiert zwar Vergewaltigung und Belästigung, aber sexuelle Gewalt in der Ehe wird nicht als Straftat angesehen.  Auch andere Formen von Gewalt werden nicht kriminalisiert, wie beispielsweise Einschränkungen der Freiheit und Wahlmöglichkeiten von Frauen, wirtschaftlicher Missbrauch oder psychische Gewalt. Entsprechend unvollständig ist auch die Datenlage. Dem jordanischen Amt für Statistik zufolge haben 26 Prozent aller verheirateten Frauen zwischen 15 und 49 Jahren körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt erlebt (Stand 2018). Statistisch gesehen hat nur eine von fünf Frauen, die „körperliche oder eheliche Sexualgewalt“ erfahren hat, um Hilfe gebeten. Da die Statistik jedoch nur verheiratete Frauen umfasst, dürfte das tatsächliche Ausmaß der Gewalt viel größer sein.

Gewalt in Familien und Beziehungen betrifft Menschen aller kulturellen und sozioökonomischen Hintergründe sowie Bildungsstufen – nicht nur in Jordanien. Die Covid-19-Pandemie hat das Problem weltweit verschärft: Laut den Vereinten Nationen ist das Risiko häuslicher Gewalt in vielen Ländern gestiegen. Die Betroffenen sind meist Frauen und Kinder. Existenzängste und erhöhter Stress in der Pandemie können Auslöser für Gewalt sein. Gleichzeitig ist es für Betroffene aufgrund von Kontaktbeschränkungen schwieriger geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Das Team von „Land des Friedens“ ist in Irbid gut vernetzt. Im Bild: Generaldirektor Imad Al-Zaghoul und Projektmanagerin Lana Abu Snaneh (rechts).

„Land des Friedens“ unterstützt Betroffene

Das Team von „Land des Friedens“ in Irbid kennt betroffene Familien persönlich. Projektmanagerin Lana Abu Snaneh erzählt, dass eine Verwandte seit Monaten vergeblich um das Sorgerecht ihres Sohnes streite. Obwohl ihr rechtlich nach einer Trennung das Sorgerecht zustünde, vertagten die Gerichte ihre Entscheidung. Hinzu komme der Druck der Familie: Sie forderten, das Kind solle beim Vater bleiben und die Frau habe Angst, ihr Kind nach einer Scheidung nicht mehr wieder zu sehen. „Deshalb überlegt sie nun, bei ihrem gewalttätigen Mann zu bleiben.“

Ein verbreitetes Problem sei die Erpressung von Frauen, erzählt Snaneh weiter und gibt ein Beispiel: „Wir haben von mehreren Frauen erfahren, dass sie mit privaten Fotos erpresst werden. Die Betreiber von Handyläden sind meist Männer. Wenn die Frauen ihr Gerät in Reparatur geben, kommt es häufig vor, dass die Männer private Fotos herunterladen.“ Damit erpressen sie die Frauen und drohen, die Bilder öffentlich zu machen. Deshalb stehen auf Tischen in den Räumen von „Land des Friedens“ nun Lötkolben, Kontaktspray und Spannungsmessgeräte. Die Organisation hat Frauen beigebracht, wie sie selbst Verbindungen löten oder Displays austauschen können. „Einige reparieren nun Handys von anderen Frauen in ihrem Zuhause. Eine Workshop-Teilnehmerin hat ihr eigenes Handygeschäft eröffnet“, erzählt Snaneh stolz.

Zubehör für die Handyreparatur: Frauen bekommen praktische Hilfe für den Alltag.

Bedarfsanalyse statt vorgefertigter Themen

Doch die Organisation wollte das Problem von Gewalt in Familien breiter angehen. Das forumZFD unterstützt sie dabei. Die Räume des forumZFD in der Hauptstadt Amman geben einen weiten Blick frei auf das Stadtpanorama, darunter die historische Zitadelle. Hier hat Karim Thabet, Landesdirektor des forumZFD in Jordanien, sein Büro. „Wir geben nicht einfach Geld, damit eine Idee von uns implementiert wird“, erklärt Thabet. „Stattdessen stärken wir die Kapazitäten unserer Partnerorganisationen, diskutieren mit ihnen mögliche Vorgehensweisen und Lösungen, und helfen dann bei der Umsetzung.“

Diese Herangehensweise leitet die gesamte Friedensarbeit des forumZFD: Anstatt lokalen Gemeinden ein vorgefertigtes Projekt überzustülpen, werden die konkreten Bedarfe zusammen mit den Partnerorganisationen und den Menschen vor Ort ermittelt. Anschließend werden gemeinsam Lösungen entwickelt und umgesetzt. Das forumZFD begleitet und unterstützt den Prozess von Anfang an, erläutert Landesdirektor Thabet: „Unsere Partnerorganisationen bekommen zunächst ein Training dazu, wie sie in die Gemeinden hineingehen und welche Fragen sie stellen können. Beispielsweise diskutieren sie in kleinen Gesprächsgruppen mit den Anwohner*innen verschiedene Themen und erfahren so, wo die Probleme liegen.“ Bei solchen Gesprächen in Irbid wurde klar, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, das viele Frauen und Kinder in der Stadt betrifft. Jedoch hat „Land des Friedens“ nicht genügend Mitarbeitende, um das Thema in den Familien direkt zu adressieren. Zusammen mit dem forumZFD entwickelte das Team deshalb eine andere Idee: Sie wollten in den Schulen ansetzen.

Sozialarbeiter*innen können helfen

In Jordanien gibt es an vielen Schulen Sozialarbeiter*innen, die die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familie beraten. Doch das Personal ist nicht ausreichend geschult und weiß kaum, wie es Gewalt in Familien erkennen und angehen kann. Deshalb entwickelte das Team von „Land des Friedens“ eine Trainingsreihe speziell für die Sozialarbeiter*innen an Schulen. Im Konferenzsaal in Irbid sitzen einige der Teilnehmenden zusammen und sprechen darüber, was sie in den Trainings gelernt haben. Die 45-jährige Itaf Dhoun ist Direktorin einer Grundschule. „Ich erhielt einige Beschwerden im Zusammenhang mit Gewaltfällen in den Familien. Im Kurs habe ich mehr Informationen bekommen, wie ich das soziale Umfeld der Kinder genauer verstehen und möglicherweise verbessern kann.“

Die 41-jährige Dareen Mustafa arbeitet als Seelsorgerin an einer Grundschule für Mädchen. Sie sagt, sie kenne die theoretischen Definitionen, Typen, sogar Gründe und Auswirkungen von Gewalt in Familien. „Aber das Training hat mir geholfen, einen Plan aufzustellen und es hat mir praktischen Input gegeben, wie ich mit den Betroffenen umgehen kann. Außerdem haben sie mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Opfer rechtlich wehren können.“

Die Schulsozialarbeiterinnen Dareen Mustafa, Iman Sawalha und Itaf Dhoun berichten, was sie in dem Training gelernt haben.

Ein vertrauensvolles Umfeld schaffen

In der Trainingsreihe haben die Sozialarbeiter*innen außerdem gelernt, wie sie Vertrauen zwischen den Schüler*innen und den Lehrkräften aufbauen und ein sicheres Umfeld schaffen können. Iman Sawalha, die an einem privaten Gymnasium für Jungen arbeitet, erzählt: „Es ist wichtig, die Kinder zu motivieren und ihnen Aktivitäten anzubieten, durch die sie sich von ihrer Gewalterfahrung erholen können.“ Zum Beispiel könnten Schul-Arbeitsgemeinschaften positive Erlebnisse und ein paar ruhige Minuten bringen, ergänzt der 41-jährige Khalil Akram Khalil, Sozialarbeiter und Angestellter im Bildungsministerium: „Soziale und körperliche Aktivitäten, die in den Schulen durchgeführt werden, leiten negative Energie ab und tragen zur psychischen Gesundheit bei.“ Manchmal kontaktieren die Sozialarbeiter*innen auch die Familien direkt, um Hilfe anzubieten. Dareen Mustafa erzählt von einer Schülerin, die von ihrem Vater missbraucht wurde. Als Mustafa davon erfuhr, nahm sie Kontakt zur Stiefmutter auf – die das Kind vor erneuten Übergriffen schützen konnte. „Das Mädchen ist nun aktiv im Schulradio. Dadurch gewinnt sie Selbstbewusstsein und positive Energie.“

In der Zukunft möchte „Land des Friedens“ seine Arbeit an den Schulen weiter ausbauen. „Wir werden eine Einheit bilden, die auf Schulunterricht spezialisiert ist, in der psychologische Ausbilder*innen unter unserer Aufsicht die Leitung übernehmen“, berichtet Generaldirektor Imad Al-Zaghoul von den Plänen. Mit ihrer Arbeit trägt die Organisation zu einem sicheren Lernumfeld für die Kinder und Jugendlichen bei – und somit zu einer friedlicheren Gesellschaft insgesamt, in der Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden. Ein Engagement, dass das forumZFD gerne unterstützt: „Es ist wichtig, dass wir das Thema in einen institutionellen Rahmen gebracht haben“, betont forumZFD-Landesdirektor Karim Thabet. „Die Lehrkräfte und die Sozialarbeiter*innen werden über ihre normale Ausbildung hinaus geschult, bekommen Infos und Wissen an die Hand. Sie informieren die auch die Schulleitungen, die dadurch die Problematik besser im Blick haben.“

Das Pilotprojekt von zeigt bereits Wirkungen über das erste Training hinaus: Zwölf der Kursteilnehmenden haben konkrete Initiativen entwickelt, die sie zunächst über einen Zeitraum von drei Monaten an ihren Schulen umsetzen. Sie wollen zum Beispiel stärker über die Auswirkungen von häuslicher Gewalt aufklären und regelmäßige Treffen mit der Schulleitung, den Eltern und den Schüler*innen anbieten. Das forumZFD und „Land des Friedens“ begleiten die Umsetzung dieser Ideen. Und auch darüber hinaus bleiben beide Organisationen gemeinsam am Thema dran: Als nächstes will das Team unter anderem die rechtlichen Lücken und die Implementierung der Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern angehen. Geplant ist, ein Netzwerk in Irbid aufzubauen, das auch die zuständigen Behörden einschließt. „Wir wollen diejenigen ansprechen, die juristisch tätig sind und Gesetze umsetzen“, erklärt Projektmanagerin Lana Abu Snaneh. „Wir wollen die Schwachstellen im Gesetz ausfindig machen und gemeinsam herausfinden, wie wir eingreifen können.“

Die Autorin Julia Neumann ist freie Journalistin in Beirut und berichtet aus dem Libanon, aber auch aus anderen Ländern der Region.

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen*, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützt das Netzwerk Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Die Menschen am Hilfetelefon sprechen insgesamt 17 verschiedene Sprachen. Auch für Angehörige, Freund*innen und Fachkräfte ist die Beratung anonym und kostenfrei.

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