Wohin steuert unsere Welt?

Die Rolle der Vereinten Nationen für Frieden und Gerechtigkeit.

Vor genau 50 Jahren traten die beiden deutschen Staaten den Vereinten Nationen bei. Für die Nachfolgestaaten von Nazi-Deutschland bedeutete dieser Schritt die (Wieder-)Aufnahme in die Weltgemeinschaft. Im Laufe der Jahre haben die Vereinten Nationen immer wieder wegweisende Vereinbarungen zur Wahrung der Menschenrechte und des Friedens getroffen. Doch um den heutigen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen sich die UN verändern. 2024 findet dazu ein Zukunftsgipfel statt, den Deutschland gemeinsam mit Namibia leitet. Auch eine neue Friedensagenda soll bei dem Gipfel verabschiedet werden. Wird es gelingen, das Bündnis der Staatengemeinschaft neu aufzustellen? Können die Vereinten Nationen in Zukunft wieder eine stärkere Rolle für globalen Frieden einnehmen?
Aufnahme Erdkugel Weltraum
© Colin Behrens/pixabay

Als im Februar 2022 kurz nach Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine der UN-Sicherheitsrat durch das russische Veto blockiert wurde, war die Kritik aus Politik und Zivilgesellschaft groß. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet die Weltorganisation, deren wichtigste Aufgabe die Wahrung des Friedens ist, in einer solchen Situation scheinbar völlig handlungsunfähig war? Blockaden des Sicherheitsrats durch eine oder mehrere der fünf Vetomächte hatte es zwar schon häufiger gegeben. Dieses Mal waren die Zweifel an der Wirkmächtigkeit der UN jedoch besonders groß.

Auch Angela Kane, eine ehemalige hochrangige deutsche UN-Diplomatin, findet: „Der UN-Sicherheitsrat ist vollkommen zersplittert.“ Die fünf Vetomächte sind Russland, China, Großbritannien, Frankreich und die USA. Als Staaten, die als mächtigste aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, hatten sie bei der Gründung der UN das Vetorecht erhalten. Sie sind außerdem ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Hinzukommen zehn rotierende Mitgliedstaaten ohne Vetorecht, die für jeweils zwei Jahre in das Gremium gewählt werden.

Angela Kane war von 2012 bis 2015 Hohe Repräsentantin der UN für Abrüstungsfragen.

In Zeiten zunehmender internationaler Spannungen, der Klimakrise und vieler weiterer globaler Herausforderungen stehen die Vereinten Nationen und somit der Multilateralismus unter Druck. Wissenschaftler*innen sprechen von einer globalen „Polykrise“. Man könnte meinen, dass ein Staatenverbundwie die UN besonders effektiv mit solchen grenzüberschreitenden Krisen umzugehen wissen sollte.

Oft scheint jedoch eher das Gegenteil der Fall zu sein. Konsensentscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden, ist mit insgesamt 193 Mitgliedstaaten meist mühselig und langwierig. Dazu kommt, dass viele Staaten großen Wert auf ihre nationalen Interessen legen. Einzelinteressen verhindern dadurch regelmäßig die Verabschiedung notwendiger Beschlüsse. Fachleute sind sich einig: Es muss sich etwas ändern.

Doch wie könnte eine solche Reform aussehen? Gerade zu der Frage, wie der Sicherheitsrat reformiert werden kann, gibt es zahlreiche Vorschläge. Zentrale Aspekte in der Debatte sind das Vetorecht und die Zahl der nicht ständigen Mitglieder. Großbritannien kündigte vor kurzem an, sich für eine umfassende Reform des UN-Sicherheitsrates einsetzen zu wollen. Solche Reformen erfordern allerdings meist auch eine Änderung der UN-Charta, dem Gründungsvertrag der Weltorganisation. Die Umsetzung ist also nicht einfach.

Jens Martens (Magazin 23/3)

Deutschland darf nicht bloß mit symbolischer Politik auftreten, sondern muss konkrete Initiativen anstoßen.

Jens Martens, Global Policy Forum Europe

Jens Martens ist Geschäftsführer des Global Policy Forum Europe, einer gemeinnützigen Organisation, die sich kritisch mit den Aktivitäten der Vereinten Nationen auseinandersetzt und multilaterale Prozesse analysiert. Er glaubt, dass in Anbetracht des geopolitischen Geschehens aktuell nicht die Zeit für strukturelle Veränderungen sei. Neben grundlegenden strukturellen Reformen schlagen Fachleute daher auch Veränderungen vor, die vor allem die interne Arbeitsweise der UN betreffen und diese effizienter machen sollen. Solche Maßnahmen seien aktuell eher passend und umsetzbar, glaubt Martens.

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Um den Multilateralismus für aktuelle und künftige Herausforderungen besser zu wappnen, ist im September 2024 ein Zukunftsgipfel geplant. Gemeinsam mit Namibia leitet Deutschland den Gipfel. Für die Bundesrepublik ist das die Chance, eine proaktivere und kohärentere deutsche UN-Politik einzuleiten. Die Moderationsrolle ermöglicht es der Bundesrepublik, Themen zu setzen und die Verhandlungen zu leiten – insbesondere zwischen den Staaten des Globalen Südens, den USA und Europa. Eine solche Aufgabe erfordere großes diplomatisches Geschick, weshalb die Entwicklung des Zukunftsgipfels stark von den beiden Verhandlungsführer*innen abhänge, sagt Jens Martens.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen: 193 Mitgliedstaaten sind hier vertreten. Kompromisse zu finden, ist oft mühselig und langwierig.
 

Er ist sich außerdem sicher, dass Deutschlands Auftreten große Auswirkungen auf andere UN-Mitgliedstaatenhaben wird. Deutschland müsse das Vertrauen der Länder des Globalen Südens zurückgewinnen, so Martens. Dazu dürfe die Bundesrepublik nicht fordern, was sie selbst nicht einhalte. „Deutschland darf nicht bloß mit symbolischer Politik auftreten, sondern muss konkrete Initiativen anstoßen“, fordert der Geschäftsführer des Global Policy Forum Europe.

Die Ausgangslage für den Zukunftsgipfel sei allerdings nicht einfach, erklärt die ehemalige UN-Diplomatin Angela Kane. Die Idee für den Gipfel geht auf einen Bericht zurück, den UN-Generalsekretär António Guterres 2021 vorgelegt hatte: Unter der Überschrift „Our Common Agenda“ äußerte er sich zur Zukunft des Multilateralismus. Allerdings war dieser Bericht nicht mit den Mitgliedstaaten abgestimmt worden. Einige Staatenäußerten bereits Kritik und Zweifel an den Vorschlägen des Generalsekretärs. Gerade in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft wollen die Mitgliedstaaten ungern weitere Souveränität und Befugnisse an die UN abgeben.

Diese Herausforderung für die Verhandlungsführenden müsse berücksichtigt werden, merkt Angela Kane an. Auch weil es eine Vielzahl an Arbeitsgruppen gibt, die mit verschiedenen Aspekten der Konsensfindung beauftragt sind, ist die Aufgabe der Bundesrepublik als Ko-Verhandlungsführer schwierig. Sie hofft, dass es letztlich möglich sein wird, eine Erklärung zu vereinbaren, die wirklich Substanz hat. Viel hängt wohl aber auch vom geopolitischen Geschehen im nächsten Jahr ab.

Hoffnungsschimmer: Eine neue Friedensagenda

Ein Ergebnis des UN-Zukunftsgipfels soll eine neue „Agenda für den Frieden“ sein. Damit soll die ursprüngliche Agenda von 1992 gestärkt werden. Diese hatte der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali anlässlich der globalen Umbrüche veröffentlicht: Durch das Ende des Kalten Krieges hatte sich der Handlungsrahmender Weltpolitikspürbar verändert.

Die Art, wie mit gewaltvollen Konflikten und Kriegen umgegangen wurde, war im Wandel. Die Agenda klärte daher nicht nur zentrale Begrifflichkeiten wie Friedensschaffung,-sicherung und -konsolidierung, sondern beeinflusste auch das gesellschaftliche Grundverständnis von Friedenganz wesentlich. Teil dessen ist der Gedanke, dass gewaltvolle Konflikte nur mit internationaler Unterstützung ganzheitlich bearbeitet werden können. Auch auf nichtstaatliche Akteur*innen ist die Weltgemeinschaft dabei angewiesen.

UN-Fahrzeuge auf dem Weg zu einer Inspektion in Syrien: Die Wahrung des Friedens ist die wichtigste Aufgabe der Weltorganisation, aber die Herausforderungen in der Praxis sind enorm.

In Anbetracht der gegenwärtigen geopolitischen Lage gebe es den großen Bedarf, dass die UN eine stärkere Rolle im Bereich Friedeneinnähmen, so Jens Martens. Die UN müssten Vermittler und ein Forum für Verhandlungen sein. Zusammen mit anderen Organisationen hat das Global Policy Forum Europe konkrete Verhandlungsvorschläge für den Zukunftsgipfel veröffentlicht. Besonders bei Sicherheitsfragenmüsse mehr Verantwortung an die UN-Generalversammlung abgegeben werden.

Dadurch sollen Blockaden durch einzelne Staaten verhindert werden. Dennoch sind einige Fachleute unschlüssig, was die neue Agenda beinhalten wird und leisten kann. Das liegt auch daran, dass bis Mitte Juli 2023 noch keine genaueren Inhalte veröffentlicht wurden, obwohl das bereits hätte geschehen sollen. Zentral wird aller Wahrscheinlichkeit nach das Thema Abrüstung sein. In der Publikation des Global Policy Forum Europe fordern die Expert*innen eine jährliche Senkung der Militärausgaben um je zwei Prozent. Die Ersparnisse sollten in die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und in Friedensförderung investiert werden.

Hier überwachen UN-Einsatzkräfte, wie Kämpfer*innen im afrikanischen Burundi freiwillig ihre Waffen abgeben.

Angela Kane, die als Hohe Repräsentantin der UN für Abrüstungsfragen zuständig war, wünscht sich, dass die politische Arbeit der UN wieder präsenter wird. In letzter Zeit habe man sehr wenig mitbekommen, so Kane. „Die Menschen müssen merken, dass da etwas unternommen wird, dass da versucht wird, zu schlichten und einzugreifen“, betont sie. Der Multilateralismus müsse stärker unterstützt und vor allem wertgeschätzt werden. Dass das aktuell nicht der Fall ist, bedauert sie sehr.

Die globalen Nachhaltigkeitsziele – ferner denn je?

Auch mit Blick auf Nachhaltigkeit stehen die Vereinten Nationen vor einer großen Herausforderung. Im Jahr 2015 hatten die Mitgliedstaaten die Agenda 2030 verabschiedet. Diese umfasst 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten SDGs (Sustainable Development Goals). Die Agenda beinhaltet ökologische, ökonomische sowie soziale Aspekte. Konkret sind das beispielsweise der Klimaschutz, die Bekämpfung von Hunger und Armut, aber auch der stärkere Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Alle UN-Staaten haben sich verpflichtet, sich an der Erfüllung der Ziele zu beteiligen. Die Staatenorganisation ist der Meinung, dass eine solche nachhaltige Entwicklung nur gemeinsam erreicht werden kann.

17 Ziele für nachhaltige Entwicklung will die Weltgemeinschaft bis 2030 erreichen – aber dafür muss noch viel passieren.

Das Jahr 2023 kennzeichnet nun die Halbzeit bis zur Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele. Beim Lesen aktueller Schlagzeilen wirken diese Ziele jedoch ehrgeizig und fern. Der SDG-Bericht des UN-Generalsekretärs zeigt, dass bei der Mehrzahl der Ziele keine Fortschritte erreicht wurden; teilweise sogar Rückschritte. Bei lediglich zwölf Prozent aller Indikatoren befinden sich die UN demnach auf Kurs. Um das weitere Vorgehen zu besprechen, findet noch dieses Jahr im September ein SDG-Gipfel statt. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze betont, dass die SDGs eine globale Errungenschaft sind und einen unverzichtbaren Kompass für das Handeln der Weltgemeinschaft darstellen. Doch eins steht fest: Um die Ziele zu erreichen, muss viel und vor allem schneller etwas geschehen.

Der SDG-Gipfel ist deshalb ein Ort, um über diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu sprechen. Laut Jens Martens muss es vor allem in drei Bereichen Veränderungen geben. Das sei erstens die institutionelle Stärkung im Bereich Nachhaltige Entwicklung. Während beispielsweise der Sicherheitsrat 200 Tage im Jahr tagt, stehen dem Gremium, das für Nachhaltigkeitsfragen zuständig ist, bloß acht Tage zur Verfügung. Fachleute fordern schon seit Jahren, dieses Gremium zu einem Rat für nachhaltige Entwicklung aufzuwerten.

Können die Vereinten Nationen die Welt dazu bewegen, auf globale Herausforderungen geeint zu reagieren?

Zweitens müsse Nachhaltigkeitspolitik zur Priorität werden, so Martens. In vielen Ländern seien Fragen der Nachhaltigkeit nach wie vor der Wirtschafts- und Finanzpolitik untergeordnet. Nachhaltigkeitsstrategien seien oft nur ein Papier neben vielen weiteren. Martens stellt klar, dass es ohne eine solche Priorisierung keine signifikanten Fortschritte bei der Erreichung der SDGs geben wird. Und drittens stelle sich noch die Frage der Finanzierung. Neben privaten Investitionen seien vor allem mehr Gelder aus öffentlichen Mitteln nötig. Den Entwicklungsetat zu kürzen, wie es aktuell in Deutschland diskutiert wird, sei ein Signal in die falsche Richtung, meint Martens.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Trotz all dieser Herausforderungen besteht kein Zweifel daran, dass die Vereinten Nationen eine einzigartige Organisation sind. Das Zusammenkommen von 193 Staaten stellt eine enorme Chance dar, die jedoch besser genutzt werden muss. Jens Martens wünscht sich, dass die UN wirklich das werden, was sie eigentlich sein sollten: ein Ort, an dem alle Länder auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das ist angesichts der Vergangenheit und der höchst unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Verhältnissen alles andere als leicht.

Aktuell seien sich die UN-Mitgliedstaaten in vielen Punkten nicht einig, so Angela Kane. Das habe sich beispielsweise bei einer Sondersitzung der UN-Vollversammlung zur Situation in der Ukraine gezeigt: Im Februar 2023 stimmten nur 141 der 193 Mitgliedstaaten für die Resolution, die einen Rückzug der russischen Truppen forderte. „Dieses Ergebnis ist nicht gerade ermutigend. Es scheint fast so, als würden sich die Sünden des Kolonialismus jetzt auf diese Weise bemerkbar machen“, meint Kane. Dennoch sollten sich die Mitgliedstaaten darauf zurückbesinnen, dass sie letztlich den gleichen Herausforderungen unserer Zeit gegenüberstehen. Diesen geeint zu begegnen, müsste daher wohl im Interesse aller sein.

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