Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte die Ukraine keine klare historische Politik gegenüber der sowjetischen Vergangenheit, dem zweiten Weltkrieg und anderen komplizierten historischen Epochen. Die Geschichte der verschiedenen Regionen der Ukraine unterscheidet sich stark. Versuche, ein gemeinsames historisches Narrativ zu schaffen, scheiterten. Das kollektive Gedächtnis ist eines der stärksten Identitätselemente und ist somit ein starkes Instrument politischer Manipulation. Der Hauptpunkt der Beziehung der Menschen zur Vergangenheit ist weniger eine Frage historischer Gerechtigkeit, sondern vielmehr eine Frage der Zunkunftsvisionen des Landes. Aus diesem Grund ist das Thema nach wie vor so konfliktträchtig und scharf.
In der multikulturellen Region Odessa mit ihrer besonderen Identität als russischsprachige Hafenstadt stoßen Versuche, ganzheitliche historische Narrative zu fördern, auf starken Widerstand, da sie die lokalen Bedürfnisse nicht wiederspiegeln. Themen wie die sowjetische Vergangenheit, die schwere Hungersnot 1932/33, die rumänische Besetzung und die imperiale Geschichte Russlands bleiben den Menschen schmerzhaft in Erinnerung und spalten die Gesellschaft. Aussagen über historische Ereignisse werden oft als Legitimierung politischer Positionen betrachtet. Bei den Ausschreitungen im Jahr 2014 wurde diese Geschichtsrhetorik zur Instrumentalisierung genutzt, was einer der Hauptauslöser für die Tragödie am 2. Mai 2014 war, bei der nach schweren Ausschreitungen 48 Menschen starben. Die Annexionen der Krim und der noch andauernde Krieg verstärken die Polarisierung.
Die Situation der Verwirrung, der unklaren Zukunftsperspektiven und wirtschaftlichen Unsicherheit schließen einige konventionelle Ansätze der Konflikttransformation aus.
Das Projekt Vergangenheit/Zukunft/Kunst, das das forumZFD-Ukraine-Programm zusammen mit Oksana Dovgopolova (Philosophieprofessorin an der Odesa National University, spezialisiert auf Gedächtnisstudien) und Kateryna Semenyuk (Kultur- und Kunstmanagerin) umsetzt, zielt darauf ab, diese konfliktreichen Themen mittels Kunst zu betrachten. Die Sprache der Kunst ist indirekt und offen für Interpretationen. Diese Offenheit der Bedeutungen und Deutungen schafft Raum für konfrontationslose Gespräche über die schwierigen Ereignisse der Vergangenheit und über Werte, die die Gesellschaft leiten sollten.
Ziel des Projektes ist es, einen Raum für offene Diskussionen und Gespräche zu schaffen, in dem Erinnerung zum Auslöser für ein Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft wird. Das Projekt beinhaltet öffentliche Veranstaltungen und Diskussionsrunden für ein breites Publikum. Künster*innen und verschiedene Expert*innen sind eingeladen, sich über ihre Erfahrungen und Ansichten über den Umgang mit der Vergangenheit in anderen Teilen der Ukraine und im Ausland auszutauschen. Einzelne Aktivitäten sollen Studierende, Akademiker*innen und Pädagog*innen einbeziehen, um ihr Interesse an dem Thema zu wecken und sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Das Projekt wurde zwar in Odessa gestartet und beschäftigt sich vorrangig mit lokalen Themen, jedoch sollen auch Zielgruppen aus anderen Teilen der Ukraine erreicht werden.
In dieser von Erinnerungskriegen und Polarisierung geprägten Situation soll das Projekt zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen.