„Alle heißt alle“, skandierten die Demonstrierenden im Oktober 2019 im Libanon, als sie zu Tausenden auf die Straße gingen. Der Protest vereinte Menschen aller sozialen Schichten, Geschlechter und Religionen – eine Seltenheit im Libanon. Gemeinsam prangerten sie soziale Missstände an und erwirkten schließlich den Rücktritt der damaligen Regierung.
Im Online-Gespräch berichteten Jenny Munro und Mirjam Walter vom forumZFD Libanon, wie sie die Situation im Herbst 2019 erlebten. „Ich bin schon eine ganze Weile hier, aber ich habe in meinem Leben noch nie etwas Vergleichbares mitbekommen wie diese Revolution“, erzählte Mirjam Walter, die seit 2017 für das forumZFD in Beirut arbeitet. „Die Solidarität unter den Menschen auf der Straße war überwältigend. Das fing schon bei einfachen Dingen wie Essen verteilen an.“ Besonders beeindruckt habe sie außerdem die Kreativität und der Humor, mit dem die Menschen im Libanon die schwierigen Zeiten bewältigten.
Jenny Munro, die als Programmmanagerin für den Bereich Vergangenheitsbewältigung zuständig ist, ergänzte: „Als die Revolution begann, haben wir uns natürlich auch gefragt, was das für unsere Arbeit als Friedensorganisation bedeutet, zum Beispiel für die Vergangenheitsbewältigung. Tatsächlich war das für uns eine Bestätigung: Die Themen, die während der Demonstrationen angesprochen wurden, waren genau die Themen, an denen wir arbeiten. Es wurde zum Beispiel offen darüber gesprochen, welche Strukturen der Vergangenheit die Gesellschaft bis heute beeinflussen. Durch die Revolution haben uns plötzlich viel mehr Menschen zugehört, wenn unsere Partnerorganisationen und wir solche Themen angesprochen haben.“
Über 70 Teilnehmende verfolgten das Gespräch live im Internet und stellten viele Fragen rund um die aktuelle Situation und die Friedensarbeit des forumZFD im Libanon. Die Aufzeichnung des Online-Gesprächs können Sie hier anschauen:
Im Laufe des Gesprächs erläuterten Jenny Munro und Mirjam Walter die Hintergründe der Protestbewegung und den gesellschaftlichen Kontext im Libanon. Sie erklärten, wie der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 und die Konflikte zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften das politische System des Landes bis heute prägen. Viele Probleme sind nach wie vor ungelöst. Obwohl die Proteste im Oktober 2019 einen Regierungswechsel einleiteten, ist die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter groß, da viele Menschen um ihren Lebensunterhalt bangen. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Währung hat stark an Wert verloren und die Arbeitslosigkeit ist rasant gestiegen.
Die Corona-Krise verschärft die Situation zusätzlich. Besonders die zahlreichen Geflüchteten aus dem Nachbarland Syrien sind der wirtschaftlichen Krise und der Gefahr durch das Virus oftmals schutzlos ausgeliefert. Bereits vor der Krise fehlte es an der notwendigen Infrastruktur, um die große Zahl an Schutzsuchenden zu versorgen, betonte Mirjam Walter im Online-Gespräch: „Circa 40 Prozent der Geflüchteten leben in sehr prekären Verhältnissen. In den Städten wohnen sie oft in Zelten, auf Baustellen oder in völlig überfüllten Wohnungen. Offizielle Camps gibt es nicht, weswegen gerade in der Beeka-Ebene in Richtung syrische Grenze viele Geflüchtete in Zeltansammlungen auf Privatgrundstücken untergekommen sind – und dafür dann auch noch Miete zahlen müssen.“
Insgesamt ist der Bedarf für Friedensarbeit im Libanon weiter hoch, resümierten die beiden Kolleginnen aus Beirut. Es gilt, alte und neue Konflikte gewaltfrei und mit Kreativität und innovativen Ansätzen aufzuarbeiten. Jenny Munro erklärte: „Es ist wirklich schön zu sehen, wie unterschiedliche Partnerorganisationen an uns herantreten, Vorschläge machen und gemeinsam mit uns Projektideen entwickeln. Wir sind ein Denkpartner bei der Suche nach Lösungen und die Projekte sind für beide Seiten ein Lernprozess. Diese engen Partnerschaften gehen weit über eine reine finanzielle Unterstützung hinaus.“
Das forumZFD im Libanon
Seit 2009 ist das forumZFD im Libanon aktiv. Die Arbeit gliedert sich in drei Programmbereiche:
Vergangenheit bewältigen: Wir unterstützen die aktive Aufarbeitung des Bürgerkriegs, zum Beispiel indem wir Jugendliche mit Zeitzeugen ins Gespräch bringen. Unser eigens entwickeltes Handbuch hilft Lehrkräften, vielfältige Blickwinkel auf Vergangenheit und Gegenwart in den Unterricht einzubeziehen.
Fähigkeiten entfalten: Lokale Organisationen im Libanon sind oft hoch motiviert, doch es fehlt an Fachwissen über Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Unser umfassendes Schulungsangebot stärkt nachhaltig die Kapazitäten der Zivilgesellschaft.
Gemeinschaft mobilisieren: Unsere Projekte fördern gezielt den sozialen Zusammenhalt. Wir unterstützen unsere lokalen Partner unter anderem bei der Konzeption und Durchführung von Nachbarschaftsaktionen, um Spannungen abzubauen und Vorurteile zu überwinden.