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Gesichter eines Genozids

In Kambodscha lernen Jugendliche aus der Vergangenheit

Mitten in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh liegt ein Ort unvorstellbaren Schreckens: Tuol Sleng, das ehemalige Foltergefängnis der Roten Khmer. Heute dient es als Museum. Zu sehen sind unter anderem Fotos der Opfer und der Täter*innen des Genozids. Gerade für junge Menschen, die dieses dunkle Kapitel in Kambodschas Geschichte nicht selbst erlebt haben, ist dieser Ort ein eindrückliches Mahnmal für eine friedlichere Zukunft. Doch viele Schulen können sich die Reise in die Hauptstadt nicht leisten. Als Teil eines Friedensbildungsprojekts ermöglichte das forumZFD zwei Schulklassen einen Besuch im Museum.
Reportage1 Magazin 03/2022
© Silviu Mihai

An dem einfachen Zaun, hinter dem große Palmen und ein paar marode Gebäude zu sehen sind, lässt sich kaum erkennen, dass dieser Ort einst eine verhängnisvolle Rolle spielte. Auch der großzügige Hof mit Bänken und kleinen Grünanlagen lässt nicht wirklich ahnen, was hier in den 1970er Jahren geschah. Erst als eine der Museumsführerinnen anfängt zu erzählen, wie fünf ihrer Familienangehörigen damals in diesem Gefängnis getötet wurden, beginnt auch die Schulgruppe, das Gelände im Detail wahrzunehmen. Am Tag zuvor reisten die rund 30 Jugendlichen mit dem Bus aus der fast 300 Kilometer entfernten Stadt Battambang an, um sich hier in Phnom Penh das Genozid-Museum anzuschauen. Sie tragen die weißen und blauen Uniformen ihrer beiden Gymnasien und hören ruhig zu, wie die Roten Khmer hier aus Klassenzimmern Zellen und Folterräume machten.

Gleich nachdem eine Person hierhergebracht wurde, war ein Fotograf damit beauftragt, die üblichen Frontalund Profilbilder aufzunehmen, die heute mehrere Ausstellungsräume füllen. Einige Wochen oder Monate später, so erzählt die Museumsführerin, nahm der Fotograf dann die Pendant-Bilder auf, nämlich die von den Leichen der Gefangenen. Schätzungen zufolge waren fast 20.000 Menschen zwischen 1976 und 1979 in Tuol Sleng inhaftiert. Fast alle Gefangenen starben entweder durch Folter oder sie wurden auf den sogenannten Todesfeldern vor den Toren Phnom Penhs hingerichtet. Nur ein knappes Dutzend überlebte.

In dieser Schreckensbilanz drückt sich die Brutalität aus, mit der die Roten Khmer in den 1970er Jahren über Kambodscha herrschten. Ihre ideologischen Wurzeln hatte die Bewegung im marxistisch und antikolonial geprägten Pariser Studierendenmilieu der 1950er und 1960er Jahre. Dort verbrachte Pol Pot, der spätere politische und militärische Anführer, sein Auslandsstudium. Doch mit den Programmen anderer kommunistischer Parteien, bekannt etwa aus der UdSSR oder aus anderen osteuropäischen Ländern, hatte die politische Agenda der Roten Khmer nur wenig gemein. Nach der Machtübernahme 1975 strebten Pol Pot und sein Umfeld keine rasche Urbanisierung, Industrialisierung und Alphabetisierung Kambodschas an. Im Gegenteil: Die Roten Khmer versuchten, das Land mit Gewalt in eine vollständige Agrarwirtschaft umzuwandeln. Jede Form von Bildung und Technologie galt als politisch verdächtig. Bücher wurden verbrannt, Geld und Religionsausübung verboten, und beinahe die gesamte intellektuelle Elite des Landes wurde ermordet. Nur wenige Tage, nachdem die Roten Khmer die Hauptstadt eingenommen hatten, vertrieben sie die Bevölkerung. Phnom Penh, das bis dato rund zwei Millionen Einwohner*innen gezählt  hatte, glich einer Geisterstadt. Auch andere Großstädte wurden entvölkert. In langen Fußmärschen wurden die Menschen aufs Land gebracht. Wer die Strapazen überlebte, wurde zur Zwangsarbeit auf den Reisfeldern eingesetzt.

Während in anderen kommunistischen Ländern nationalistische Ressentiments im Namen der sozialistischen Brüderlichkeit für kontrarevolutionär erklärt wurden, taten die Roten Khmer das genaue Gegenteil: Sie schürten Rassismus und Feindseligkeiten gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten. Mit Gewalt versuchte das Regime, eine Rückkehr zu einer vermeintlich ursprünglichen, „reinkambodschanischen“ Gesellschaft zu erzwingen. Der Name der Roten Khmer leitet sich von der größten Bevölkerungsgruppe, den Khmer, ab. Angehörige anderer ethnischer Gruppen, etwa der vietnamesischen Minderheit, der indigenen muslimischen Cham oder der Bergvölker wurden systematisch vernichtet. Auch Oppositionelle und politisch Andersdenkende wurden vom Regime verfolgt und in Gefängnissen wie Tuol Sleng gefoltert.

Die Schüler*innen aus Battambang, die das ehemalige Gefängnis an diesem Tag besuchen, erfahren von der Museumsführerin, dass es während der Herrschaft der Roten Khmer landesweit fast 200 solcher sogenannter Sicherheitsämter gab. Doch Tuol Sleng diente als eine Art Hauptstelle der Repression, wo das Regime seine vermeintlichen Gegner* innen zum Verhör inhaftierte. Zuvor hatte das Gebäude lange als Sekundärschule gedient. Nach der Vertreibung der Stadtbevölkerung funktionierten die Roten Khmer diesen Standort mitten in der nun menschenleeren Hauptstadt in eine Einrichtung um, die offiziell „Sicherheitsamt 21“, kurz S-21, hieß.

Orte des Schreckens: Die Schulklassen besichtigen die ehemaligen Verhörräume.

Sogar Kinder waren unter den Gefangenen

Die meisten Menschen, die hierhergebracht wurden, waren jung, zum Teil sehr jung. Minderjährige oder sogar Kinder festzunehmen, entweder allein oder mit ihren ganzen Familien, war gängige Praxis. Und auch unter den Fotos der Täter*innen, die in einem anderen Ausstellungsraum gezeigt werden, entdecken die Schüler*innen aus Battambang unter den charakteristischen Mützen der Roten Khmer viele Gesichter von 17-, 18- oder 20 Jährigen. „Wie war es denn überhaupt möglich, dass damals kambodschanische Teenager wie wir oder ein bisschen älter als wir Tausende ihrer eigenen Landsleute folterten und umbrachten?“, fragt Seriphoat Sokhun, ein 17-Jähriger aus Battambang, der auf das Net-Yang-Gymnasium geht. Eine klare und einfache Antwort auf seine Frage bekam er in der Schule noch nicht. Und auch an diesem heißen Tag, an dem er mit seinen Klassenkamerad*innen die Hauptstadt besucht, fällt es der Museumsführerin schwer, solche Fragen zu beantworten.

Dafür erleben die Schüler*innen auf ihrem Rundgang hautnah, welchen Bedingungen die Gefangenen ausgesetzt waren: die kargen, kaum drei Quadratmeter großen Zellen, wo sie direkt auf dem Boden schlafen mussten, Hände oder Füße an einer Eisenstange gefesselt. Die Verhörräume mit Lattenrosten aus Metall, an deren Wänden die Bilder von verstümmelten Leichen hängen. Ein vietnamesischer Reporter hatte diese Fotos im Januar 1979 aufgenommen, kurz nach der Eroberung Phnom Penhs durch vietnamesische Truppen, die die Roten Khmer entmachteten und in den Untergrund trieben. Die absurden Verhörregeln, die selbst das „richtige Verhalten“ bei Folter vorschrieben („Bloß nicht heulen! Sonst fünf Stromschläge mehr!“). Die seitenlangen erzwungenen Geständnisse frei erfundener Spionage- Verbrechen, akribisch protokolliert durch die Funktionär*innen des Regimes. Diese schriftlichen Protokolle stehen im absurden Kontrast zu der sonstigen Bildungsfeindlichkeit der Roten Khmer, in der Andersdenkende bereits durch die Fähigkeit, zu lesen und schreiben, verdächtig werden konnten.

„Ich bin von der Grausamkeit der Taten schockiert“, sagt der 17-jährige Sokhun. „Ich denke schon, dass wir in der Schule mehr über dieses Zeitalter lernen sollen.“ Es ist tatsächlich das erste Mal, dass der junge Mann sich das ehemalige Gefängnis anschaut. Auch die meisten seiner Mitschüler*innen sind vorher noch nie hier gewesen. Einige hätten das Ausmaß der damaligen Verbrechen für kaum möglich gehalten. „Viele Fotos zeigen Menschen, die gefoltert wurden. Es ist etwas ganz anderes, diese Bilder direkt am Ort des Geschehens zu sehen. Der Besuch hat meine Wahrnehmung sehr verändert“, schildert die Zwölftklässlerin Sotscheata Thoeun vom Samdetsch-Oeu-Gymnasium ihre Eindrücke. Der Museumsbesuch ist Teil des Friedensbildungsprojekts „Junge Generation“, welches das forumZFD zusammen mit zwei Gymnasien sowie mit dem Bildungsamt der Provinz Battambang seit 2021 umsetzt. Rund 30 Schüler*innen bekommen so die Chance, sich direkt mit diesem dunklen Kapitel der jüngeren kambodschanischen Geschichte auseinanderzusetzen.

„Der Besuch hat meine Wahrnehmung sehr verändert“, sagt die Zwölftklässlerin Sotscheata Thoeun aus Battambang.

Es braucht eine systematische Aufarbeitung

Obwohl der Lehrplan in Kambodscha für den Geschichtsunterricht mehrere Lektionen über die Diktatur der Roten Khmer vorsieht, fehlt es meistens an Ressourcen, um für jede Schule im Land einen solchen Hauptstadtbesuch zu organisieren, sagt Phavoan Phan vom Bildungsund Jugendamt Battambang. „Ich freue mich, dass das forumZFD unseren Schüler*innen diesen Besuch ermöglicht hat. Die Taten des Regimes waren inakzeptabel und so etwas darf sich nie wiederholen. Die kambodschanische Regierung bewahrt diese historischen Orte, damit junge Menschen sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen können.“ Projektmanagerin Carla Groß vom forumZFD ergänzt: „Gerade für die junge Generation, die um die Jahrtausendwende und damit nach dem Ende des Bürgerkriegs geboren wurde, wäre eine systematischere Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse wünschenswert. Denn zu diesem Thema gibt es noch immer kaum Austausch mit der älteren Generation. Nur durch eine solche Aufarbeitung kann also eine kritische Reflexion stattfinden und nur so können in Zukunft friedliche Lösungen zu diversen Konflikten gefunden werden.“

Im Tuol-Sleng-Museum entdecken die Schüler*innen aus Battambang viele Fotos von Opfern der Roten Khmer. Darunter sind die Namen der abgebildeten Personen zu lesen. Dahingegen bleiben die Täter*innen im Museum weitestgehend anonym. Neugierig und zugleich beklommen betrachten die Jugendlichen die Bilder von uniformierten Gleichaltrigen, die in einem der Ausstellungsräume an der Wand hängen. Diese jungen Menschen waren während der Herrschaft der Roten Khmer unter anderem in der Wachtruppe des Gefängnisses eingeteilt, arbeiteten in der Verwaltung oder waren an Verhören und Folter beteiligt. Was aus ihnen geworden ist? Diese Frage bleibt im Raum stehen.

Ähnlich wie in Deutschland nach dem nationalsozialistischen Terror ist auch in Kambodscha die Aufarbeitung der Diktatur ein langwieriger und komplexer Prozess – nicht nur strafrechtlich, sondern auch gesellschaftlich. In den wenigsten kambodschanischen Familien wird offen über diese Zeit gesprochen. Zwar erzählt manchmal eine ältere Tante, ein Onkel oder ein Großvater, wie schrecklich die Deportationen, die Zwangsarbeit auf den Reisfeldern, der Hunger und die Gewaltherrschaft waren. Niemand jedoch scheint Familienangehörige zu kennen, die damals etwa diese Deportationen organisiert oder gar bei den sogenannten Santibal, den gefürchteten „Sicherheitswächtern“ des Regimes, gearbeitet hätten.

Gefängnisleiter argumentierte wie Adolf Eichmann

Im Fall von Tuol Sleng sind lediglich die Namen der obersten Beamt*innen bekannt. Leiter des Gefängnisses und gleichzeitig Anführer der Santibal war ab 1976 ein Mathematiklehrer namens Gek-Iew Kang, besser bekannt als Genosse Dutsch, der später als einer der ersten Funktionär* innen des Regimes auf der Anklagebank saß. 2010 wurde er vom Internationalen Rote-Khmer-Gerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt, 2020 starb er in Haft. Ähnlich wie einige Funktionär*innen des Nationalsozialismus war auch Dutsch der Strafverfolgung lange Zeit entgangen: Bevor er erkannt und festgenommen wurde, hatte er mehrere Jahre unter falschem Namen für internationale Hilfsorganisationen gearbeitet. Sein Geständnis vor Gericht klärte viele Sachverhalte und ist aus historischer Perspektive sehr wichtig. Interessant ist jedoch auch, dass Dutsch ähnliche Argumente benutzte wie seinerzeit der Nationalsozialist und SS-Führer Adolf Eichmann. In einem Interview sagte Dutsch, er sei einfach Teil einer Maschinerie gewesen und habe Befehlen gehorcht. Er habe keine Alternative gehabt.

Die Schüler*innen aus Battambang jedenfalls nehmen von dem Besuch in Tuol Sleng viele Eindrücke mit. Auf dem Weg aus dem Museum sind viele nachdenkliche Mienen zu sehen. Es ist ein kleiner Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit – und damit für eine friedlichere Zukunft.

Das forumZFD in Kambodscha

Seit 2015 ist das forumZFD in Phnom Penh und Battambang aktiv. Hier konzentriert sich das Team darauf, Dialogräume zu schaffen, um Begegnungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu ermöglichen und so Vorurteile abzubauen. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Verbreitung von Methoden zur zivilen Konflikttransformation. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt zudem den jungen Kambodschaner*innen, denn sie sind diejenigen, die die Zukunft ihres Landes gestalten werden und bereits heute die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Zusammen mit lokalen Partnerorganisationen unterstützt das forumZFD die Zivilgesellschaft dabei, die Vergangenheit aufzuarbeiten und friedliche Ansätze für die Lösung gegenwärtiger Konflikte zu identifizieren. In dem Projekt „Junge Generation“ geht es etwa darum, junge Menschen in der Stadt Battambang und in der gleichnamigen Provinz in Konflikttransformation und anderen verwandten Themen weiterzubilden.
 

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