Aus Sicht der Konfliktforschung ist Radikalisierung immer ein Symptom: Gesellschaftliche Konflikte bleiben zu lange unbearbeitet. Sie produzieren Unzufriedenheit und Verunsicherung. In dieser Situation werden Menschen empfänglich für extreme Positionen. Radikale Akteure können diese Gelegenheit nutzen, um Menschen für ihre Interessen zu gewinnen – rechte Agitatoren schüren Fremdenhass und Demokratieverachtung, islamistische Prediger werben orientierungslose Jugendliche an. Der Extremismusforscher Matthias Quent spricht in diesem Zusammenhang von „Radikalisierungsunternehmern“.
Gezielte Konfliktbearbeitung kann diesen den Nährboden entziehen, indem sie die Unzufriedenheit über gesamtgesellschaftliche Verhältnisse offen anspricht. In den vergangenen Jahren haben (teils globale) Veränderungen auf verschiedenen Seiten Verlierer*innen hervorgebracht. Pandemie, Krieg, Inflation, Klimawandel und der Kampf dagegen. Diese Ereignisse stellen die Lebensweise und den Lebensstandard vieler Menschen in Frage. Das führt zu Unzufriedenheit und Verunsicherung.
Raus aus den bubbles, rein in den Dialog!
Als Friedensorganisation haben wir auf diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen nur bedingt Einfluss. Aber konstruktive Konfliktbearbeitung kann beeinflussen, wie wir mit diesen umgehen. Die entscheidende Frage stellte dazu unser Konfliktberater Dr. Johannes Blatt im Rahmen unserer Interkommunalen Fachtagung (IKFT) in Gelsenkirchen am 24. und 25. September: „Wie schaffen wir es Solidarität zwischen allen denen herzustellen, die in diesem System unter die Räder kommen – egal, ob sie in Aleppo, in Pirna oder in Gelsenkirchen geboren sind?“.
Viele der Konflikte, die wir heute erleben, resultieren letztlich aus dem Gefühl dieser Gruppen, miteinander in Konkurrenz zu stehen – um (knapper werdende) Ressourcen und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig gibt es zwischen den verschiedenen Gruppen in unserer Gesellschaft immer weniger Berührungspunkte. Man spricht viel übereinander, aber wenig miteinander. So entstehen Vorurteile und Zuschreibungen. „Wir müssen aus unseren bubbles, unseren Echoräumen, herauskommen“, forderte ebenfalls auf der IKFT unser Kooperationspartner Uwe Gerwin, Referatsleiter für Migration und Integration/Kommunales Integrationszentrum bei der Stadt Gelsenkirchen.
Im Rahmen des Beratungsprozesses setzen wir dort und in vielen weiteren Kommunen in Deutschland gemeinsam genau das um. Kommunale Konfliktberatung schafft Begegnungsräume, sie etabliert Gesprächskanäle und formiert Netzwerke und langfristige Strukturen, um Konflikte nachhaltig zu bearbeiten. Hier können Menschen ihre Sorgen und Bedürfnisse im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen äußern und sie hören die Sorgen und Bedürfnisse anderer – auch außerhalb ihrer eigenen Echoräume.
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Kommunale Konfliktberatung wirkt Radikalisierung entgegen
In der Konfliktforschung gehen wir davon aus, dass hinter einer Position (z.B: Rassismus oder Demokratiefeindlichkeit) in aller Regel ein Bedürfnis (z.B: Selbstwirksamkeit und Sichtbarkeit) steht. Konfliktberatung kann dazu beitragen, diese Bedürfnisse sichtbar zu machen und zu bearbeiten. Im Rahmen eines Beratungsprozesses können Menschen ein Gefühl der Wirksamkeit erfahren, sie können mit ihren politischen Repräsentant*innen auf kommunaler Ebene in Kontakt treten und sich aktiv an der Problemlösung beteiligen. Sie können aktiv am Diskurs teilnehmen, anstatt sich „Radikalisierungsunternehmern“ zuzuwenden. Gleichzeitig ist auch wichtig deutlich zu machen: Verständnis für Bedürfnisse darf nicht als Zustimmung missverstanden werden.
Die Radikalisierung, die wir jetzt erleben, ist ein dringendes Warnsignal: Menschen sind zu lange mit den tiefgreifenden Veränderungen und daraus entstehenden Konflikten alleine gelassen worden. Es ist dringend an der Zeit, diese Konflikte konstruktiv anzugehen. Den sozialen Frieden können wir nur im Dialog wahren. Miteinander und nicht gegeneinander.