Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der Asylpolitik
„Das ist ein historischer Erfolg“, verkündete Innenministerin Nancy Faeser am 8. Juni, nachdem sich der Rat der Europäischen Union auf eine Reform des Gemeinsamen Asylsystems geeinigt hatte. Aber leider ist dieser Jubel völlig deplatziert. Historisches Versagen wäre treffender. Denn die Reform nimmt keine Kurskorrektur an dem himmelschreienden Unrecht vor, das seit Jahren an den EU-Außengrenzen Realität ist. Vielmehr wird damit die bisherige Praxis zementiert.
Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, noch muss das EU-Parlament zustimmen. Doch sollte die Reform in der aktuellen Fassung rechtskräftig werden, dann ist nicht zu erwarten, dass die vielfach dokumentierten Menschenrechtsverletzungen– etwa durch die von der EU aufgerüstete libysche Küstenwache –beendet werden. Es wird weiterhin rechtswidrige Pushbacks geben, bei denen europäische Polizei- und Sicherheitskräfte Schutzsuchende auf See oder an Land zurückdrängen. Zivile Seenotrettung wird weiterhin kriminalisiert werden. Geflüchtete werden weiter an den EU-Außengrenzen faktisch inhaftiert, auf die Gefahr hin, dass viele neue Lager wie Moria entstehen.
Was genau beinhaltet der vermeintliche „Durchbruch“ – Zitat Kanzler Scholz –, den der Rat erzielt hat? An den Außengrenzen sollen Geflüchtete künftig ‚vorsortiert‘ werden. Menschen aus Ländern, deren Anerkennungsquote im EU-Schnitt unter 20 Prozent liegt, müssten in ein Schnellverfahren und hätten kaum noch Chancen, individuelle Fluchtgründe vorzubringen. Die Darstellung von deutschen Regierungsmitgliedern, dass Menschen aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan davon nicht betroffen seien, ist schlichtweg falsch. Denn auch ihnen droht ein Schnellverfahren, wenn sie übereinen ‚sicheren Drittstaat‘ einreisen. Die Definition solcher Staaten würde durch die Reform deutlich ausgeweitet. Es ist jedoch fragwürdig, wie sicher zum Beispiel die Türkei ist, wo im Präsidentschaftswahlkampf sowohl Amtsinhaber als auch Herausforderer angekündigt haben, syrische Geflüchtete massenhaft zurückzuschicken. Es scheint, als wäre das Ziel der Schnellverfahren, möglichst viele Menschen schon an den Außengrenzen abzuweisen.
Höhere Mauern schrecken verzweifelte Menschen nicht ab.
Die Reform würde Europa auch nicht solidarischer machen, wie Befürworter*innen behaupten. Die EU-Staaten an den Außengrenzen würden nicht entlastet, da sie weiterhin allein für die Asylverfahren verantwortlich sind. Die Aufnahme von Geflüchteten, deren Antrag Erfolg hat, bliebe freiwillig – Mitgliedstaaten könnten sich davon ‚freikaufen‘, indem sie einen finanziellen Ausgleich leisten. Und nicht einmal dazu sind die aktuellen Regierungen in Polen und Ungarn bereit, die bei der Entscheidung im Rat überstimmt wurden und weiter blockieren werden, wo immer sie können. Darüber hinaus deckt der Verteilmechanismus in keiner Weise den Bedarf: 30.000 Plätze sind vorgesehen, knapp 900.000 Menschenstellten 2022 einen Erstantrag auf Asyl. Es ist also absehbar, dass das unwürdige Gezerre darüber, wer wie viele Menschen aufnimmt, weitergeht.
Solange die EU sich in der Asylpolitik nicht einig wird, bleibt sie erpressbar. Schon jetzt buckeln europäische Regierende vor autokratischen Regimen in ihrer Nachbarschaft, damit diese doch bitte, bitte die ungewollten Geflüchteten zurücknehmen. Und wann immer es Diktatoren wie dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko gefällt, schieben sie Menschen wie Schachfiguren an die Grenzübergänge und lachen sich vermutlich ins Fäustchen, wenn in der EU das gewünschte Chaos ausbricht. In diese Malaise hat sich Europa selbst manövriert.
Die Ampelkoalition hatte sich eine humanere Asylpolitik auf die Fahnen geschrieben. Davon ist nach der deutschen Zustimmung im Rat nicht mehr viel übrig. Die Bundesregierung konnte sich mit ihrer Forderung, die Reform wenigstens abzumildern, nicht durchsetzen. Lamentieren über die eigenen Bauchschmerzen mit dem Kompromiss ist für die Menschen, um deren Schicksal es geht, kein Trost. Dass das EU-Parlament im weiteren Gesetzgebungsverfahren nachbessert, wie es aus der Ampel nun optimistisch tönt, erscheint angesichts der dortigen politischen Kräfteverhältnisse utopisch. Mehr als Schönheitskorrekturen sind nicht drin.
Eine Szene aus Griechenland: Geflüchtete leben in Zelten, da sie keine andere Bleibe haben.
Ein Dreivierteljahr vor der Europawahl müssen wir uns daher die Fragestellen: Welches Europa wollen wir? Es braucht jetzt breiten gesellschaftlichen Protest gegen eine EU, die sich mit Zäunen und Stacheldraht die Welt vom Leib zu halten versucht. Abschottung funktioniert weder in den USA noch in Europa. Höhere Mauern schrecken verzweifelte Menschen nicht ab. Sie treiben sie nur auf immer gefährlichere Fluchtrouten.
Es steht völlig außer Frage: Das EU-Asylrecht muss reformiert werden. Aber eine Einigung um jeden Preis ist keine Lösung. Die europäischen Regierungen lassen sich in ihrem derzeitigen Kurs von sicherheitspolitischen Interessen leiten. Dieser Abschottungskurs geht Hand in Hand mit einer immer stärkeren Aufrüstung. Bei den Ausgaben für Frieden, Entwicklung und humanitäre Hilfe setzen Deutschland und die EU dagegen den Rotstift an.
Hinter jeder Zahl steht ein Schicksal, eine Geschichte. Hinter jeder Zahl stehen Angehörige, die einen geliebten Menschen verloren haben.
Was dabei außer Acht gerät: Das Problem sind nicht die Fliehenden, sondern die Konflikte und die Gewalt, die sie zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Krieg und die Folgen des Klimawandels sind zentrale Ursachen für Flucht. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen eine klügere und weitsichtigere Politik einfordern, die gewaltfreie Konfliktlösung, Entwicklung, globale Gerechtigkeit und Klimaschutz fördert, damit weniger Menschen den einzigen Ausweg aus ihrer Not in einer lebensgefährlichen Flucht sehen.
Und noch etwas: Aus unseren Friedensprojekten wissen wir, wie wichtig es ist, den Opfern von Krieg und Gewalt ein Gesicht zu geben. Hinter jeder Zahl steht ein Schicksal, eine Geschichte. Hinter jeder Zahl stehen Angehörige, die einen geliebten Menschen verloren haben.Wir haben uns aber so sehr an das Sterben im Mittelmeer und anderswo gewöhnt, dass selbst Nachrichten wie die von der Bootskatastrophe Mitte Juni, als vor der griechischen Küste fast 600 Menschen ertranken, nach wenigen Tagen aus den Schlagzeilen verschwinden. Lasst uns im allgemeinen Medienrummel diejenigen nicht vergessen, die sich in der Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Würde auf den Weg nach Europa gemacht haben. Und dabei gestorben sind.
Wir müssen eine klügere Politik einfordern, die Frieden und Entwicklung fördert.