3. Juli 2023: Es ist Montagabend 19:30 Uhr, als schließlich auch der letzte Bus mit den Teilnehmenden aus Albanien und Montenegro den kurvigen Weg zum Tagungszentrum geschafft hat. Das großzügige Hotel mit dem wohlklingenden Namen „Radika – Hotel & Spa Resort“ liegt oberhalb des Mavrovo-Sees und bietet einen fantastischen Blick auf den See und die Berge, die zum größten Nationalpark Nordmazedoniens im Nordwesten des Landes gehören. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirken leicht erschöpft von der Reise. Sie beziehen ihre Zweier- oder Dreierzimmer und stärken sich am Abendbuffet. Dort treffen sie auf die anderen Teilnehmenden, die im Laufe des Nachmittags angereist sind.
Biljana Miladinović, Projektmanagerin des forumZFD in Sarajevo, atmet erleichtert auf. Sie hatte mit ihrer Gruppe aus Bosnien und Herzegowina die längste Anreise. Rund 14 Stunden waren sie mit dem Kleinbus unterwegs, haben die Grenzen zu Montenegro, Albanien und Nordmazedonien überquert. Es war schon eine kleine logistische Herausforderung, die Anreise der 55 jungen Aktivist*innen, die aus allen sechs Ländern des Westbalkans kommen, in mehreren Busreisen aus Albanien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien zu organisieren. Auch Biljanas Kollegin Neal Raimi, die als Projektmanagerin des forumZFD in Skopje (Nordmazedonien) arbeitet, ist froh, dass alle wohlbehalten eingetroffen sind. Sie hat gemeinsam mit ihren forumZFD-Kolleginnen Biljana Miladinović (Sarajevo) und Ann-Kathrin Ebinger (Prishtina) sowie den regionalen Partnern RYCO (Regional Youth Cooperation Office) und GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) die Gruppe der Teilnehmenden zusammengestellt und Reise, Unterkunft und Programm für das fünftägige Sommercamp in Mavrovo geplant.
Jugendliche werden zu Multiplikator*innen
Es ist nicht das erste Camp dieser Art, das vom forumZFD durchgeführt wird. Seit 2016 finden in Zusammenarbeit mit lokalen und regionalen Partnerorganisationen Camps für junge Friedens-Aktivist*innen aus dem Westbalkan statt, zunächst unter dem Titel „Challenge History“ und später unter dem Titel „The Future We Want“. Aber dieses Jahr gibt es eine Besonderheit: „Es ist das erste Mal, dass wir das Jugendcamp in Kooperation mit RYCO und der GIZ organisieren“, erläutert Neal, die für das forumZFD in Skopje arbeitet. „Das forumZFD arbeitet mit Friedensfachkräften in Serbien, Kosovo, Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina. Durch die Zusammenarbeit mit RYCO und der GIZ können erstmals auch Jugendliche aus Albanien und Montenegro an dem Jugendcamp teilnehmen. Es ist ein Versuch, unsere Aktivitäten mit der gleichen Zielgruppe in der ganzen Region ein bisschen zusammenzubringen. Das bedarf natürlich einiger zusätzlicher Absprachen und war auch nicht immer ganz einfach“, sagt sie lächelnd.
Das gemeinsame Ziel hätten die Organisator*innen jedoch stets klar vor Augen gehabt: Die jungen Menschen sollen mit Wissen, Methoden und Fähigkeiten rund um die Themen Friedensbildung und Konfliktbearbeitung, Inklusion und Sport, Partizipation und Projektplanung ausgestattet werden. So können sie innerhalb ihrer lokalen Netzwerke selbst zu Multiplikator*innen der Zivilgesellschaft werden, die sich aktiv für ein friedliches und respektvolles Miteinander einsetzen. Empowerment ist das Stichwort, das es wohl am ehesten beschreibt.
Nach dem Abendessen treffen sich erstmals alle im großen Tagungsraum. Begrüßt werden sie von Vladimir Gjorgjevski (RYCO), Harald Schenker (forumZFD) und Filip Ivanovski (GIZ). „Ihr seid jung. Ihr seid engagiert. Ihr könnt eine bessere Zukunft aktiv mitgestalten“, lautet die Botschaft der Veranstalter*innen. Für heute Abend steht außer der Begrüßung und ein paar organisatorischer Infos nicht mehr viel auf dem Programm. Unterschriftenlisten müssen ausgefüllt werden. Und es gibt für jede*n einen Turnbeutel mit dem Aufdruck „Youth in Action – Shape the Future“. Das ist das diesjährige Motto und bedeutet so viel wie: Jugend in Aktion – gestalte die Zukunft! In dem Turnbeutel befinden sich eine Trinkflasche, ein Notizbuch, ein Kugelschreiber und ein T-Shirt.
Eine gemeinsame Sprache finden
Eine der Voraussetzungen für die Teilnahme waren ausreichende Englischkenntnisse. Das ist verständlich, da die Vielfalt des Westbalkans sich nicht nur durch verschiedene Religionen, Kulturen und Ethnien zeigt, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Englisch als gemeinsame Arbeitssprache dient also der Verständigung aller – und dies vielleicht sogar im doppelten Sinn: Denn auch die jeweiligen Sprachen sind Teil der Spannungen zwischen ethnischen Gruppen.So werden auch die Sprachen zum Teil von politischen Eliten im Westbalkan für ihre nationalistischen Bestrebungen instrumentalisiert, wodurch die Konflikte in der Region zusätzlich angeheizt werden. „Uns ist bewusst, dass dadurch nicht alle teilnehmen können, aber ohne Englischkenntnisse geht es nicht“, sagt Neal Raimi vom forumZFD.
Die lokalen Partnerorganisationen von RYCO, forumZFD und GIZ haben die Teilnehmenden aus ihren laufenden Jugendprojekten ausgewählt. Alle engagieren sich bereits in ihrer Nachbarschaft, Schule, Gemeinde oder Kommune. „Allerdings war es uns auch wichtig, Jugendliche auszuwählen, die sonst vielleicht noch nie die Chance hatten, an so einem Camp teilzunehmen“, fügt Neal hinzu. Insgesamt 15 Jugendliche kommen über die Projektaktivitäten der lokalen Partnerorganisationen des forumZFD aus Nordmazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina. RYCO und GIZ haben die übrigen Teilnehmenden ausgewählt. „Zu Beginn unserer Planungen waren wir von 100 Teilnehmenden ausgegangen, aber dafür haben die Projektgelder dann leider nicht gereicht,“ erläutert Neal. Jetzt sind es immerhin 55 junge Menschen, die die Chance haben, an den friedensbildenden Workshops und Aktivitäten teilzunehmen.
Abends werden auf dem Gelände des Hotels Feuerschalen angezündet. Der von Bergketten umringte See schimmert in der Abenddämmerung. Gemütlich sieht es aus, wie die Jugendlichen auf den Sitzsäcken um das Feuer sitzen. Die ersten Gespräche und Begegnungen finden statt. Auch diese informelle Begegnung und das Kennenlernen sind Bestandteile des Projekts.
Nachdenken über die eigene Identität
Am nächsten Morgen geht es direkt nach dem Frühstück los. Um 9 Uhr sitzen alle gespannt im riesigen Stuhlkreis und warten, was passiert. Trainer Nenad Andrić bittet die Teilnehmenden, ihren Namen zu nennen, von wem sie den Namen bekommen haben und was er bedeutet. Viele haben ihre Namen von der Großmutter oder dem Großvater bekommen. „Was macht uns eigentlich aus? Was ist einzigartig an uns? Was bedeutet es, eine ,Identität‘ zu haben?“ Um diese Fragen geht es heute Vormittag.
Ein wichtiges Thema. „Durch unsere Identität fühlen wir uns zugehörig zu einer Gruppe von Menschen mit ähnlichen Identitätsmerkmalen oder eben auch fremd, wenn Nationalität, Sprache, Religion, Kultur, Bildungsgrad oder andere Eigenschaften stark voneinander abweichen“, erklärt Nenad. Die Aufgabe für die Teilnehmenden: So sollen nun ‚Identitätsblumen‘ mit vielen Blütenblättern malen und ihre Kunstwerke einander vorstellen. Dadurch wird die große Diversität in der Gruppe sichtbar.
Jasmila schreibt in ihre Blütenblätter: Bosnierin, Tochter, Schwester, Muslima, liebt Bücher, Sprachstudentin, Linkshänderin, liebt Reisen, Künstlerin (Schaupiel, Gesang, Schreiben). Ein anderer Teilnehmer beschreibt sich so: 25 Jahre, Kosovo, Balkan-Ägypter (Anmerkung der Redaktion: die „Balkan-Ägypter“, auf Englisch „Egyptians“ sind eine der ethnischen Minderheiten im Kosovo), Menschenrechtsaktivist, hartnäckig, Lehrer, nicht religiös.
„Einige unserer Charakter- und Identitätsmerkmale verändern sich im Laufe unseres Lebens, andere nicht“, erklärt Trainer Nenad. In dieser Form über die individuelle Identität nachzudenken, schaffe Achtsamkeit im Umgang mit anderen Teilnehmenden in einer diversen Gruppe. Denn wir erkennen: „Aha, es gibt viele Unterschiede, aber je nachdem, welche Blütenblätter man betrachtet, haben wir über soziale, religiöse, ethnische oder kulturelle Unterschiede hinweg auch viele Gemeinsamkeiten.“ Mit einem Spruch aus der südafrikanischen Philosophie entlässt er die Gruppe in die Kaffeepause: „Ubuntu“ bedeutet so viel wie: „Ich bin, wer ich bin, wegen dir“.
Versöhnung durch Konflikttransformation
Nach der Pause teilt sich die große Gruppe in drei Kleingruppen auf. Jede Kleingruppe wird nacheinander drei Workshops besuchen. Die drei Veranstalter RYCO, GIZ und forumZFD haben Planung und Durchführung je eines Workshops übernommen.
Der Workshop des forumZFD befasst sich mit dem Thema „Versöhnung durch Konflikttransformation“ und wird ebenfalls von Nenad Andric angeleitet. „Was verstehen wir überhaupt unter einem Konflikt?“, fragt er in die Runde. Er selbst lebt in Prishtina (Kosovo) und bringt als freiberuflicher Trainer langjährige Erfahrung aus dem Bereich Konfliktbearbeitung und Versöhnung mit. Die 18 Teilnehmenden des kleinen Workshops lassen sich die Frage durch den Kopf gehen. Dann fallen ihnen einige Stichworte ein: Uneinigkeit, Respektlosigkeit, fehlendes Verständnis, unterschiedliche Perspektiven, Grenzüberschreitungen, Hass, Konkurrenz, strukturelle Unterdrückung… Das sind nur einige der genannten Antworten. Eine eindeutige Definition des Begriffs „Konflikt“ scheint schwierig zu sein.
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Klar ist jedoch, dass es um eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Akteur*innen geht, die unterschiedliche Interessen verfolgen und deren Verwirklichung nicht gleichzeitig möglich ist, ohne die Interessen der anderen zu beinträchtigen. Auch können Konflikte sichtbar oder unsichtbar sein. Sie können eskalieren oder unter der Oberfläche vor sich hin schwelen. Anhand von Konfliktbeispielen führen die Teilnehmenden eine Konfliktanalyse durch. Was ist der Kern des Konflikts? Wer sind die beteiligten Akteure? Welche Bearbeitungsstrategien gibt es und welche Aussicht auf Erfolg haben diese?
„Das theoretische Hintergrundwissen ist wichtig“
Eine Ehekrise, der Irakkrieg, der Streit einer Hausgemeinschaft um die Wasserversorgung und auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dienen als Beispiele, welche die Teilnehmenden in Kleingruppen selbst ausgewählt haben. Trainer Nenad erläutert die verschiedenen Konflikttypen, zum Beispiel Verteilungskonflikte, Beziehungskonflikte, Interessens- oder Wertekonflikte. Auch die Methode des „Akteursmapping“ übt er mit der Gruppe am Beispiel des Irakkriegs.
Kein einfaches Beispiel, wie die Gruppe schnell merkt. Zu viele Akteure, zu viele bilaterale und multilaterale Spannungen, Interessen, Beziehungen. Das ist keine Übung, auf die es eine befriedigende Antwort gibt. Aber das Beispiel zeigt, wie komplex Konflikte sein können. Mit Hilfe des sogenannten „Zwiebelmodells“ erläutert der Trainer, dass jeder Konfliktakteur eigene Positionen, Interessen und Bedürfnisse hat. Er fragt seine aufmerksamen Zuhörer*innen nach den Positionen, Interessen und Bedürfnissen der Konfliktparteien Kosovo und Serbien. Gibt es auch gemeinsame Bedürfnisse beider Akteure?
„Diese ganze Konfliktanalyse und das theoretische Hintergrundwissen sind wichtig, wenn wir eine Intervention planen“, bekräftigt Nenad. „Einen Kompromiss zu finden, bedeutet immer, dass beide Konfliktparteien auch etwas aufgeben müssen. Nur so können unterschiedliche Interessen gewahrt werden und die Beziehung kann im Gleichgewicht bleiben. Die Beziehung zu den anderen Konfliktparteien nicht zu gefährden, aber dennoch die eigenen Interessen zu wahren, das kann das Ziel einer Konfliktbearbeitung sein. Durch Dialog, Mediation oder Streitschlichtung können Konflikte gewaltfrei bearbeitet und eine Eskalation vermieden werden“. Ein wichtiger und intensiver Workshop. Nachdenklich gehen die Teilnehmer*innen in die Mittagspause.
Am Nachmittag wird es sportlich
„Sport für Entwicklung. Interkulturalität und soziale Inklusion“ – der Titel dieses Workshops am Nachmittag klingt spannend. Ein paar Teilnehmer*innen haben ihre Sportsachen angezogen, andere sehen etwas unsicher aus, was sie nun erwartet. Die Sonne knallt auf den Sportplatz oberhalb des Hotels und es riecht nach Sonnencreme. Dieser Workshop ist Teil des GIZ-Programms im Westbalkan. Angeleitet wird er von Nadica Jovanovik. Es soll um interkulturelle Kommunikation und soziale Inklusion gehen. Die Trainerin will wissen, was interkulturelle Kommunikation bedeutet. Zuhören, Verständnis für andere Sichtweisen, Offenheit, Perspektivwechsel, Respekt und Toleranz werden genannt.
Dann geht es auch schon los. Im ersten Teil treten zwei Teams gegeneinander an. Jedes Team muss insgesamt neun Stationen mit Aufgaben erledigen. Dabei kommt es vor allem darauf an, als Team gemeinsam Lösungen zu finden. Gewonnen hat das Team, das als erste alle Aufgaben gelöst hat. Der Wettbewerbscharakter ist sofort da. Die Aufgaben stehen auf kleinen Zetteln an jeder Station. Wer liest vor, wer hört zu, wer macht die Ansagen, wer findet Antworten? Schnell wird klar, worum es eigentlich geht. Es geht nicht darum, zu gewinnen. Die Kommunikation im Team ist entscheidend. Werden alle gehört, können wir gemeinsam eine Lösung finden, wer trifft die Entscheidungen? Gar nicht so einfach, wenn nicht alle die gleiche Sprache sprechen, über unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, die einen laut und forsch, die anderen eher zurückhaltend und ruhig sind.
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Im zweiten Teil des Workshops will Nadica wissen, was die Gruppe unter sozialer Inklusion versteht. Jeden einbeziehen, keine Ausgrenzung, gleiche Chancen für alle. In der Theorie klingt das alles einleuchtend. Und dann wird „Ultimate Frisbee“ gespielt. Bei diesem wettkampforientierten Mannschaftssport treten zwei Teams gegeneinander an und versuchen Punkte zu erzielen. Es geht natürlich auch hier um Fairness, Respekt und das Zusammenarbeiten zwischen den Spieler*innen. Das Besondere: Es gibt keine*n Schiedsrichter*in.
Eine Regeländerung führt zu Diskussionen
Schnell zeigt sich, dass einzelne Spieler*innen besonders oft die Scheibe in der Hand haben und Punkte erzielen, andere stehen eher am Rand. Plötzlich wird die Regel geändert. Alle Spieler*innen eines Teams müssen einmal die Frisbee berührt haben, bevor ein Punkt erzielt werden kann. Es kommt zu Diskussionen. War das jetzt ein Punkt oder nicht? Man ist sich uneinig. Hilfesuchend wenden sich die Teams an Nadica. Sie lächelt nur und zuckt mit den Schultern. Die Teams müssen selbst eine Lösung finden.
In der Abschlussrunde werden alle gebeten, ihr eigenes Verhalten noch einmal zu reflektieren. Habe ich im Spiel und unter Wettbewerbsbedingungen beachtet, was wir vorher besprochen haben? Welche Rolle habe ich eingenommen? Wurden alle gleichermaßen gesehen, gehört, wertgeschätzt und einbezogen? Wurden einzelne Spieler*innen aufgrund ihrer körperlichen Eigenschaften bevorzugt oder benachteiligt? Die Selbstreflexion leidet etwas angesichts der Hitze auf dem Platz. „Manchmal braucht es auch ein paar Stunden oder Tage, bis die Teilnehmer*innen verstehen, worum es bei dem Workshop eigentlich ging“, lächelt Nadica. Auch für sie ist es immer wieder eine spannende Erfahrung, das Verhalten der Spieler*innen zu beobachten.
Die Teilnehmenden entwickeln eigene Projekte
Am nächsten Tag des Jugendcamps findet der dritte Workshop „Engagement in der Gemeinschaft“ (engl. community engagement) statt. Dragan Markoski und Mirlinda Alemdar, beide von PeaceCorps in Nordmazedonien, führen zusammen mit RYCO häufiger diese Trainings mit jungen Erwachsenen durch. „Es geht darum, den jungen Aktivist*innen Wissen darüber zu vermitteln, wie sie an Entscheidungsprozessen teilhaben können. Dafür ist es notwendig, sich die einzelnen Formen des Engagements und die Stufen der Partizipation genauer anzuschauen.“
Information, Beratung oder Einholung von Fachexpertise sind Formen von Bürgerbeteiligung, jedoch handele es sich lediglich um Vorstufen, erläutert Dragan. „Echte Partizipation beginnt dann, wenn Bürger*innen an Entscheidungsprozessen teilhaben können. Das kann eine Form von Kooperation und Mitbestimmung sein, es kann aber auch die teilweise oder vollständige Übertragung der Entscheidungskompetenzen auf eine Gruppe oder Gemeinschaft sein. Das ist die höchste Stufe auf der Leiter der Partizipation. Bürger*innen werden ermächtigt, selbst Entscheidungen zu treffen. Daher sprechen wir in diesem Fall auch von Empowerment.“
Dragan erklärt den jungen Aktivist*innen, dass nicht alles echte Beteiligung sei, auch wenn es manchmal danach aussehe. Einige Entscheidungsträger*innen geben zwar vor, dass sie die Jugend teilhaben lassen. Doch das diene häufig auch nur dekorativen und im schlimmsten Fall sogar manipulativen Zwecken.
Nach einer kurzen Pause bittet Dragan die Teilnehmenden, einen ersten kleinen Projektplan zu erstellen. „Welche Situation möchtest du verändern? Mit wem willst du zusammenarbeiten und welche Methoden willst du nutzen?“ Es dauert nicht lange, bis die jungen Aktivist*innen erste Projektskizzen entworfen haben und in kleinen Runden darüber diskutieren. Später sollen sie noch die Gelegenheit bekommen, ihre Projektideen weiter auszufeilen.
Nach den vielen intensiven Gesprächen und Denkanstößen in den Workshops haben die Teilnehmenden schließlich einen freien Nachmittag, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Es wird Volleyball gespielt, im Pool gebadet, auf der Terrasse entspannt, viel gelacht und geredet.
Junge Aktivist*innen erzählen inspirierende Geschichten
Am Donnerstagmorgen kommen alle noch etwas müde, aber in guter Stimmung wieder im großen Tagungsraum zusammen. Heute Vormittag sind drei besondere Menschen zu Gast: Junge Aktivist*innen aus dem Westbalkan, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise erfolgreich für einen Wandel in ihrer Gesellschaft einsetzen.
Zum Beispiel der 21-jährige Blendi Hodai aus Tetovo (Nordmazedonien). Blendi, der sich selbst als unverbesserlichen Optimisten beschreibt, will andere zum Mitmachen inspirieren. Er erzählt von den Anfängen seines Engagements während der Schulzeit. Alles fing mit einer kleinen Protestbewegung in der Schülerschaft an. „Wir waren damals nicht damit einverstanden, dass der Schuldirektor alleine entscheidet, wohin wir unseren jährlichen Schulausflug machen. Wir wollten mitentscheiden. Es gab viele Entscheidungen im Schulsystem, die ungerecht waren und von oben herab getroffen wurden.“ Das wollten Blendi und seine Mitschüler*innen nicht weiter hinnehmen.
Aus der anfangs kleinen Bewegung wurde schnell eine von Schüler*innen getragene landesweite Bewegung mit dem Ziel, die Rechte aller Schüler*innen Nordmazedoniens zu stärken und ihre Beteiligung an politischen Entscheidungen zu verbessern. Sie gründeten 2017 die Organisation UNSHM (Union of High-School Students of North Macedonia), um Schüler*innen eine Stimme zu geben. Heute setzen sie sich für ein gerechteres Bildungssystem und die Rechte von Schüler*innen ein. Die Vertreter*innen von UNSHM verstehen sich als Sprachrohr aller Schüler*innen Nordmazedoniens.
„Die Leute stecken mich in Schubladen“
Die 26-jährige Nikolina Gagić aus Srebrenica in Bosnien und Herzegowina ist online dazu geschaltet. Sie weiß, dass jetzt alle Augen auf sie gerichtet sind, als sie anfängt zu erzählen. Sie hat sich geschminkt, die Fingernägel gemacht. Ihre Frisur sitzt perfekt. „Politik war früher für mich nicht wichtig“, erzählt sie. „Aber irgendwann ist mir bewusst geworden, dass Politik alles in unserem täglichen Leben beeinflusst, und dass damit auch Einschränkungen einhergehen. Zum Beispiel kommt es manchmal vor, dass ich nur meinen Namen nenne und die Leute damit direkt eine bestimmte Nationalität, Religion und Ethnie verbinden. Sie stecken mich dann in eine dieser Schubladen.“
Ihre Spende für die Friedensarbeit!
Die Aktivistin erzählt, wie wichtig es ihr sei, als Individuum wahrgenommen zu werden. Durch die Art, wie sie sich kleide und schminke, wolle sie ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. „Individualismus ist für mich auch eine Form von Aktivismus“, betont sie. Sie hat Schauspiel studiert und engagiert sich seit zehn Jahren in zahlreichen Organisationen unter anderem für Frieden und Menschenrechte.
Erta Prifti hat sich bereits im Alter von 13 Jahren als junge Aktivistin in Albanien engagiert. Später bekam sie die Chance, mit verschiedenen internationalen NGOs zusammenzuarbeiten und wurde Gründungsmitglied des U.S. Embassy Youth Council in Albania. Diese NGO hat sich zum Ziel gesetzt, junge Albaner*innen aus allen gesellschaftlichen Schichten stärker am gesellschaftspolitischen Dialog zu beteiligen. Erta berichtet von ihrer Bildungsarbeit mit jungen Aktivist*innen in Albanien und von ihrer Hoffnung, dass die Beteiligung und Mitbestimmung der jungen Generation zu einem Wandel in ihrer Gesellschaft beiträgt.
Erste Projektideen entstehen
Drei Tage lang konnten sich die Teilnehmenden nun schon von anderen inspirieren lassen und dabei viel lernen, hören, sehen, ausprobieren und diskutieren. Unabhängig von ihrem Herkunftsland, ihrer Ethnie, Sprache oder Religion tauschten sie sich in Kleingruppen darüber aus und entwickelten Ideen, wie sie als Teil der Zivilgesellschaft zu Veränderungen und Frieden beitragen können. Im letzten Teil der Tagung kommen die jungen Menschen jetzt wieder mit den Leuten aus ihrem Herkunftsland zusammen.
Jetzt ist Kreativität gefragt: Alle sechs Gruppen bekommen den Auftrag, ein eigenes Projekt zu entwickeln und später im Plenum vorzustellen. Als Hilfestellung dient ein Raster mit Fragestellungen zur Projektplanung: Projekttitel, Projektziele, Region, Zielgruppe, Aktivitäten und Zeitplan. Die Budgetplanung nicht zu vergessen. Alle machen sich eifrig ans Werk. „Natürlich erwarten wir keine perfekten Projektpläne“, sagt Anja Bebekovska, Programmreferentin von RYCO in Skopje (Nordmazedonien). „Die Teilnehmenden bekommen jetzt die Zeit und Gelegenheit, sich als Gruppe noch einmal intensiv mit den Themen, die sie bewegen, auseinanderzusetzen. Der Projektplan hilft ihnen dabei, den Gedanken und Ideen eine Struktur zu geben. Und wer weiß, vielleicht entstehen ja erste Projektideen, die später Wirklichkeit werden.“
Eine bessere Zukunft ist möglich
Tatsächlich zeichnen sich die später vorgestellten Projektideen durch eine bunte Vielfalt aus. So hat zum Beispiel die albanische Gruppe ein Projekt für junge qualifizierte Menschen entwickelt, das dazu beitragen soll, dass diese nicht aus Albanien auswandern. Mit verschiedenen Aktivitäten wollen sie die junge Generation über berufliche Perspektiven und Möglichkeiten in Albanien informieren.
Die Jugendlichen aus der bosnischen Gruppe wollen der jungen Generation in ihrem Land durch Kunst und verschiedene Kreativ-Workshops eine Plattform bieten, sich miteinander zu vernetzen und über unterschiedliche Narrative und Perspektiven auszutauschen (z.B. durch Theater- oder Street-Art-Projekte). Einen anderen Ansatz verfolgt die serbische Gruppe mit ihrer Idee, ein fünftägiges Sportcamp durchzuführen. 20 Teilnehmer*innen unterschiedlichen Alters und mit diversen Hintergründen sind eingeladen, einmal im Jahr an sportlichen und gesundheitsfördernden Aktivitäten teilzunehmen. Neben Teambuilding wird es dabei auch um gesunde Ernährung gehen. Durch parallel stattfindende Storytelling- oder Film-Workshops soll zugleich ein Bewusstsein für verschiedene Identitäten geschaffen werden. Dialog und Begegnung, Kunst und Kultur, Sport und Gesundheit, Begegnung und Miteinander – in diese Richtung gehen auch die anderen drei Projektideen aus dem Kosovo, Nordmazedonien und Montenegro.
„Ich werde anderen davon erzählen“
Fünf Tage lang haben sich die jungen Erwachsenen auf ein abwechslungsreiches, intensives und anspruchsvolles Programm eingelassen. Stolz nehmen sie am letzten Abend ihre Zertifikate entgegen. Die jungen Menschen im Alter von 16 bis 25 Jahren stärkten in den Workshops ihre Friedens- und Konfliktfähigkeit und erlangten Wissen und Kompetenzen rund um die Themen Konfliktbearbeitung, Interkulturalität, Partizipation und Empowerment. „Ich werde anderen davon erzählen und ich will mich jetzt noch aktiver mit jungen Leuten für einen friedlichen Wandel der Gesellschaft einsetzen“, sagt eine Teilnehmerin begeistert. „Die Arbeit, die ihr macht, finde ich wirklich richtig toll“, sagt ein Teilnehmer und deutet auf die Veranstalter*innen. „Ich will später auch in so einer Organisation arbeiten.“
Der Abschluss-Karaoke-Abend mit einem bunten Mix aus modernen internationalen Songs und traditionellen Volksliedern aus dem Westbalkan zeigt, dass fröhliches und ausgelassenes Feiern auch über Grenzen hinweg möglich ist.
„Durch meine Teilnahme an diesem Camp konnte ich mich psychisch und persönlich weiterentwickeln. Es war großartig und ich möchte Ihnen sagen, dass Sie immer auf mich zählen können und ich immer bereit bin zu jedem Projekt beizutragen. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit. Nochmals vielen Dank für alles.“ (Enis, 19, Bugojno/ BiH)
„Frieden bedeutet für mich, in Harmonie mit den Menschen in meiner Nachbarschaft und Gesellschaft zu leben. Dazu gehört für mich auch, dass wir uns gegenseitig respektieren und akzeptieren. Ich habe am Youth Camp teilgenommen, weil es mir dabei hilft, verschiedene Perspektiven kennenzulernen. Außerdem kann ich mich persönlich und beruflich weiterentwickeln. Und ich habe hier die Chance, neuen Leuten zu begegnen und von ihnen zu lernen. Ich denke, dass ich durch diese Erfahrung jetzt noch offener und aufgeschlossener anderen gegenüber bin.“ (Visar, 25 Jahre, Kosovo)