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„Die Geschichte meiner Generation muss erzählt werden“

forumZFD-Interview mit dem Kriegskind und Museumsgründer Jasminko Halilovic

Er war Mitte 20 als Jasminko Halilovic sich selbst und allen, die wie er in der Kindheit den Krieg in Bosnien-Herzegowina erlebt hatten, nach ihren Erinnerungen befragte. 1600 Menschen teilten ihre Erinnerungen mit ihm, die er zwei Jahre später in dem Buch „Kindheit im Krieg – Sarajevo 1992-1995“ veröffentlichte. Die große Resonanz ermutigte ihn, den nächsten Schritt zu wagen: ein Ort für die Erinnerungen der Kriegskinder in Sarajevo. Das forumZFD unterstützte das Museum über Kindheit im Krieg in den Anfängen, inzwischen arbeiteten das forumZFD und seine Partnerorganisationen auch im Libanon und in der Ukraine mit Halilovic’s Museum zusammen. Sein nächstes Projekt ist eine Wanderausstellung in Europa, die die Erfahrungen von Kriegskindern aus Bosnien-Herzegowina, Syrien und der Ukraine dokumentiert.
Jasminko Halilovic
© privat

Sie waren vier Jahre alt, als 1992 der Krieg in Bosnien-Herzegowina ausbrach. Etwa 20 Jahre später begannen Sie, Erinnerungen von Personen zu sammeln, die während des Krieges aufgewachsen sind. Was hat Sie motiviert, dieses Projekt zu starten?

Als Heranwachsender der Nachkriegszeit in Bosnien-Herzegowina war ich Hunderten von Projekten ausgesetzt, die sich mit dem Krieg beschäftigten. Sie dokumentierten ihn aus verschiedenen Perspektiven, aber nicht viele davon nahmen die Perspektive der Kinder ein. Ich war überzeugt, dass diese Lücke geschlossen werden muss; die Geschichte meiner Generation muss erzählt werden. Offensichtlich hielt ich das damals für ein ziemlich überschaubares  Projekt ich hatte keine Ahnung, wohin es mich führen würde.

Warum verspürten so viele Menschen nach all‘ den Jahren noch den Wunsch, ihre Erinnerungen mit Ihnen (und der Öffentlichkeit) zu teilen?

Viele Leute erzählten mir, niemand habe sie gefragt, wie es ihnen während des Krieges erging und wie sie die Nachkriegszeit erlebt hatten. Das von mir initiierte Projekt „Kindheit im Krieg“ (War Childhood Project) war eine der ersten und seltenen Gelegenheiten für diese Menschen, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Außerdem war das Projekt eindeutig unpolitisch, hatte keine verborgene Agenda und gewann das Vertrauen der Menschen sie sahen es als sicheren Ort, um ihre Geschichten zu erzählen.

Sie erhielten weit mehr als eintausend persönliche Geschichten von Menschen, die ihre Kindheit im Krieg verbrachten. Welche Erinnerungen und Geschichten haben die Menschen mit Ihnen geteilt?

Ich erhielt extrem viele verschiedene Erinnerungen. Ich erinnere mich, wie schockiert ich war, als ich sie las. Ich bin selbst ein Kriegskind, aber plötzlich erkannte ich, dass ich fast nichts über diese Erfahrung wusste. Bevor ich anfing, diese Erinnerungen zu sammeln, hatte ich keine Ahnung, wie komplex und vielschichtig diese Erfahrungen sind. Ich lernte, dass sie selbst für zwei Brüder, die unter ein und demselben Dach wohnen, völlig verschieden sein können. Ein weiterer interessanter Aspekt, wenn man bedenkt, dass ich anfangs den Platz für Erinnerungen auf 160 Zeichen begrenzt habe, ist, dass die Menschen oft die Wahl trafen, nicht die schlimmsten Momente der Kriegszeit zu teilen, sondern Geschichten von Kreativität, Freundschaft und Liebe.

Sie haben Ihre Kindheit in Sarajevo verbracht, in der Stadt, die 1.425 Tage lang belagert wurde. Was sind Ihre persönlichen Erinnerungen an Ihre Kindheit im Krieg?

Ich habe einige meiner Erinnerungen in dem Buch beschrieben; ich spreche darüber nicht gerne in Interviews. Ich erhalte diese Frage wöchentlich, und es ist mir zu viel, diese Geschichten immer wieder hervorzuholen.

Das Museum ‚Kindheit im Krieg' stellt private Erinnerungsstücke aus. Hinter jedem Objekt steht eine persönliche Geschichte.

Das ist verständlich. Sie haben die gesammelten Erinnerungen in einem Buch veröffentlicht. Warum war es Ihnen wichtig, die Erinnerungen der Kinder an den Krieg mit der Öffentlichkeit zu teilen?

Während ich an dem Buch arbeitete, also Erinnerungen sammelte und bearbeitete, kommunizierte ich mit hunderten von Menschen. Es war ein langer und anstrengender Prozess, in dessen Verlauf ich begriff, dass das Projekt für viele von ihnen wichtiger war als für mich. Ich fühlte eine enorme Verantwortung und später eine Erleichterung, als das Buch als abschließendes Zeugnis für die Erfahrung unserer Generation angenommen wurde.

Die Reaktionen waren positiv, nicht nur von denen, die dazu beigetragen hatten, sondern auch von ihren Familienmitgliedern und der breiten Öffentlichkeit. Das Buch inspirierte die Menschen zum ersten Mal nach 18 Jahren nach Bosnien-Herzegowina zu kommen, es bot Anlass für wichtige Gespräche innerhalb der Familien, half den Menschen, sich mit einigen ihrer Erfahrungen auseinanderzusetzen, und es inspirierte mich, die nächste Phase des Projekts zu starten.

Das Buch ist voll von Fotos, die Erinnerungsstücke derer zeigen, die ihre Geschichten erzählten. Nach der Veröffentlichung des Buches engagierten Sie sich, einen Ort zu finden, an dem die Gegenstände zusammen mit den Erinnerungen der Menschen präsentiert werden konnten. Im Jahr 2017 eröffneten Sie dafür ein Museum in Sarajevo. Mit welchen Herausforderungen und vielleicht auch Widerständen sahen Sie sich auf dem Weg konfrontiert?

Der Weg zur Schaffung eines Museums ist, glaube ich, nie ohne Probleme und Herausforderungen. Dasselbe gilt für das Museum „Kindheit im Krieg“. Es gab enorme Herausforderungen in allen Aspekten des Aufbaus: Methodik und Sammlung, Personal und Logistik. Wenn Sie nicht superreich sind und versuchen, ein gemeinnütziges Museum zu eröffnen, sind Finanzierung und Räumlichkeiten zwei schwierige logistische Fragen.

Es ist mir gelungen, Mittel von internationalen Spendern zu finden, aber für den Raum brauchten wir die Unterstützung der lokalen Regierung. Die bosnisch-herzegowinische Regierung war dem Projekt gegenüber nicht unterstützend eingestellt. Ich würde nicht sagen, dass das Museum in ihren Augen kontrovers war, ich würde eher sagen, dass es einfach nicht in ihre Agenda und die offiziellen Erzählungen vom Krieg passte. Das Projekt war eine unabhängige Jugendinitiative, offen für alle, die diese Erfahrung im Krieg aufzuwachsen unabhängig von ihrem Hintergrund teilen.

Im Jahr 2017 öffnete das War Childhood Museum in Sarajevo seine Türen - ein Ort für die Erinnerungen der Kriegskinder, unabhängig von Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit.

Im November ist der 25. Jahrestag des Abkommens von Dayton, das den Krieg beendete. Die Kinder von damals sind heute selbst Eltern. Warum ist es wichtig, Orte wie Ihr Museum in Sarajevo zu haben?

In einem Dokumentarfilm besucht ein Vater, der dem Museum seine Gitarre gespendet hat, mit seiner Tochter die Ausstellung. Aus dieser Szene, aber auch aus den Rückmeldungen anderer Besucher*innen erkennen wir, wie das Museum dazu beiträgt, Kriegserfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Unsere umfangreichen Bildungsprogramme, mit denen wir jährlich über 5.000 Kinder erreichen, sind ein wichtiger Beitrag zur Friedenserziehung im Land. Heute ist das Museum einer der seltenen sicheren Orte, an dem Menschen über ihre Kriegserlebnisse sprechen können, ohne befürchten zu müssen, dass diese missbraucht werden. Es ist ein Ort, der Menschen zusammenbringt, Empathie und Hoffnung weckt und über die Bedeutung des Friedens aufklärt.

Inzwischen reichen Ihre Aktivitäten über Bosnien-Herzegowina hinaus. Sie haben auch Geschichten von syrischen Kindern im Libanon und Kindern in der Ukraine zu dokumentiert. Wie geht es weiter?

Vor kurzem haben wir das erste internationale Büro Kiew eröffnet. Wir arbeiten in der ganzen Ukraine daran, Erfahrungen von Kindern zu dokumentieren, die vom anhaltenden Krieg betroffen sind, und werden bald erste Ausstellungen präsentieren. Wir arbeiteten auch im Libanon, um die Erfahrungen syrischer Kinder zu dokumentieren. Kindern und Menschen, deren Kindheit von Krieg betroffen ist oder war, die Möglichkeit zu geben, darüber zu sprechen, kann auf persönlicher Ebene wichtig sein. Es trägt zu einem Heilungsprozess bei und gibt den Kindern das Gefühl, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein.

Wir können die Geschichten von Kindern zum Beispiel in einem Flüchtlingslager dokumentieren, sie fragen was sie fühlen und was sie brauchen und diese Geschichte in die Medien bringen oder Entscheidungsträger*innen damit zu konfrontieren. Auf diese Weise machen wir auf die Bedürfnisse von Kindern aufmerksam, und zeigen auf, dass die Rechte von Kindern unbedingt und überall geschützt werden müssen. 

Für das kommende Jahr wollen Sie eine Ausstellung nach Deutschland und in andere Länder der EU bringen. Bitte erzählen Sie uns etwas mehr über das nächste Projekt.

Im Moment bereiten wir unsere Wanderausstellungen in der EU vor, stellen Materialien dafür her. Unsere Sammlung ist gewachsen und umfasst heute persönliche Gegenstände, Geschichten und Videoberichte, die Erfahrungen aus verschiedenen Konflikten und Orten darstellen, von Bosnien-Herzegowina bis Afghanistan, vom Zweiten Weltkrieg bis zum Krieg in Syrien. In der gesamten EU gibt es Gemeinschaften, die von diesen Konflikten betroffen sind, und es handelt sich dabei nicht nur um Flüchtlinge, Studierende oder Fachleute, die aus diesen Ländern kamen, sondern auch um Kinder von Kriegsjournalist*innen, Veteranen und andere. Bewaffnete Konflikte betreffen eine enorme Anzahl von Menschen in allen Ländern, und wir wollen ihre Ausstellung überall hin bringen, nicht nur um die Geschichten zu zeigen, die bereits in unserer Sammlung sind, sondern auch um neue Geschichten in den Städten zu sammeln, in denen wir ausstellen. Wir hoffen, dass wir unser Vorhaben bis Ende 2021 starten können.

Das Gespräch führte Christoph Bongard.

Das Buch „Kindheit im Krieg – Sarajevo 1992-1995“ erhalten Sie im Buchhandel. Es ist ein besonderes Werk des Autors Halilović, das er zusammen mit 1600 Menschen aus Sarajevo weltweit realisiert hat.

Weitere Informationen zum Museum „Kindheit im Krieg“ in Sarajevo finden Sie unter  www.warchildhood.org

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