Der Neoliberalismus hat den Egoismus gezüchtet und die Solidarität zerstört

Gesine Schwan im forumZFD-Interview

Gesine Schwan sprach mit uns über die fatalen Folgen des Neoliberalismus, die Chancen der nachhaltigen Entwicklungsziele für einen Politikwechsel und erklärt wie Europa die Krise überwinden und die Aufnahme der Flüchtlinge gelingen kann.

Porträtfoto von Gesine Schwan
© Hans-Christian Plambeck

2016 war kein gutes Jahr für die Europäische Union. Würden Sie sagen, dass Europa an einem Wendepunkt ist?

Gesine Schwan: Ich glaube, dass Europa in einer sehr tiefen Krise steckt. Die Schließung der Grenzen, die starke Betonung von nationalen Vorurteilen – das sind Indizien einer Erosion der Europäischen Union. Dieses Bild der EU wird allerdings von den nationalen Regierungen und dem von den Staats­ und Regierungschefs gebildeten Europäischen Rat geprägt. Der Rat hat sich spätestens seit der Bankenkrise zum fast alleinigen Herrscher in Europa gemacht. Ich glaube jedoch, dass auf der Ebene der Kommunen, der Unternehmen und der organisierten Zivilgesellschaft sehr viel mehr positive, europäische Einstellungen geblieben sind. Die Ressourcen, gegen die wachsenden nationalistischen, rechtsextremen Potenziale vorzugehen, liegen nicht bei den nationalen Regierungen – diese sind viel zu sehr mit Umfragen, Wahlen und Parteienkonkurrenz beschäftigt und trauen sich immer weniger an sachliche Politik –, sondern bei der Zivilgesellschaft. Deswegen müssen wir massiv umsteuern und finanzielle Macht direkt an die Gemeinden und an die organisierte Zivilgesellschaft übergeben, damit wir aus dieser Krise herauskommen.

Nicht nur in Europa empfinden viele Menschen die Globalisierung mittlerweile als Bedrohung und flüchten ins Nationale.

Gesine Schwan: Die Ursachen liegen in der Wirtschaftspolitik und einer entsprechenden Kultur, die massiv vom Neoliberalismus geprägt wurde. Dieser Liberalismus hat bewusst öffentliche Güter zugunsten von Privatisierung zurückgedrängt. Er hat den Egoismus gezüchtet und die Solidarität zerstört. Die Politik hat die Globalisierung nicht gerecht gestaltet: Sozialversicherungen, die sozialen Ausgleich schaffen, wurden gestrichen, Gewerkschaften geschwächt und so weiter. Damit zerstört die Politik Solidarität, und die Diskrepanz zwischen Arm und Reich wächst. Diese Erfahrung von Globalisierung ist natürlich abschreckend.

Das zentrale Motto der globalen Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung lautet „niemanden zurücklassen“. Das klingt wie ein Gegenentwurf zu der von Ihnen beschriebenen neoliberalen, zunehmend nationalistischen Politik. Hat diese Agenda tatsächlich eine Chance darauf, umgesetzt zu werden und auch zu einem Politikwechsel beizutragen?

Gesine Schwan: Das denke ich schon. Immerhin haben sich die Staaten der Vereinten Nationen darauf verständigt. Das heißt natürlich nicht, dass die Regierungen wirklich danach handeln. Aber die Agenda 2030 ist erst mal eine gemeinsame Bekenntnisgrundlage, auf die man sich berufen kann. Ihre 17 Ziele und 169 Unterziele wirken etwas verwirrend, aber im Grunde geht es darum, Armut zu bekämpfen und öffentliche Güter einzurichten.

Ein Problem ist, dass die Agenda eigentlich erst im letzten Ziel 17 die zentralen Fragen angeht, wie diese Ziele umgesetzt werden sollen, welche politischen Institutionen und Verfahren es braucht. Sie können noch so viel Geld nach Afrika pumpen, ohne eine gute Regierungsführung, die für Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit sorgt, hilft es nicht viel. Die Ziele formulieren auch sehr deutlich, was in der Frage der Integration von Flüchtlingen bei uns nötig ist. Wobei die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union meines Erachtens zurzeit dagegen verstoßen. Darauf müssen wir uns konzentrieren.

Frieden ist eine der fünf Dimensionen nachhaltiger Entwicklung und eines der 17 Ziele der Agenda. Was müsste für die Umsetzung dieses Ziels passieren?

Gesine Schwan: Frieden kann im Wortsinne nur herrschen, wenn wir die drei Grundwerte der Französischen Revolution Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch umsetzen. Dazu gehört eine gerechte Steuerpolitik. Alle wissen, dass es notwendig ist, die Reichsten zu besteuern, Finanzspekulationen zu stoppen und Gerechtigkeit zu schaffen. Viele, die sich eine goldene Nase verdient haben, auch vor, in und nach der Finanzkrise, sind nach wie vor nicht bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen.

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Ihr Parteifreund und Noch-Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich für eine neue Verantwortung der deutschen Außenpolitik starkgemacht. Sollte Deutschland tatsächlich eine stärkere Rolle in der Welt einnehmen und wenn ja wie?

Gesine Schwan: Ich glaube, dass es zunächst mal ein richtiger Schritt ist von Frank­Walter Steinmeier, Außenpolitik in den systemischen Zusammenhängen zu sehen und nicht zurückzufallen in eine nationale Machtaußenpolitik des 19. Jahrhunderts. Was eine starke Verantwortung Deutschlands angeht, ist nach wie vor Vorsicht geboten. Ich empfinde das vor allen Dingen in Bezug auf Europa, wo sehr viele unter deutscher Dominanz gelitten haben. Das sieht man auch aktuell in Griechenland, wo Wolfgang Schäuble praktisch diktieren will, was die Griechen ihren Rentnern auszahlen dürfen. Was da passiert, ist ungeheuerlich. Deutsche Politik tritt selbstherrlich und imperialistisch auf, wenn sie die Vergangenheit aus dem Blick verliert. Das tut die deutsche Bundesregierung im Moment in den Personen Schäuble und auch, wenn auch im Stil zurückhaltender, Merkel.

Die Betonung der deutschen Verantwortung darf nicht einfach zum Ruf nach mehr militärischem Engagement führen. Ebenso wenig gefällt mir, wie diese deutsche Verantwortung in der Flüchtlingspolitik gegenüber der Türkei und Nordafrika wahrgenommen wird. Hier bedient sich die deutsche Außenpolitik in erster Linie militärischer Abwehrmechanismen, und sogar die Entwicklungszusammenarbeit dient letztlich dazu, uns die Flüchtlinge vom Hals zu halten.

Im vergangenen Sommer haben Sie einen Vorschlag gemacht, wie Europa einerseits mit der Fluchtsituation umgehen und zugleich die eigene Krise überwinden könnte: Kommunen in der Europäischen Union sollten sich direkt zur Aufnahme von Geflüchteten bereiterklären können und dafür eine Förderung der EU erhalten. Was ist daraus geworden?

Gesine Schwan: Der Vorschlag hat noch rechtliche Hürden zu überwinden, denn bei der Aufnahme von Flüchtlingen haben nach wie vor die Nationalstaaten das Recht, die Höhe des Kontingents zu bestimmen. Aber ich habe das weiterverfolgt, und wir sind jetzt dabei, mit ca. zehn Städten, die bei der EU einen gemeinsamen Antrag stellen wollen, eine Art Demonstrationsprojekt auf die Beine zu stellen. Die entsprechende Ausschreibung der EU enthält viele der Punkte, die ich auch in der Strategie beschrieben habe, zum Beispiel die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen vor Ort. Mit dem Projekt, an dem zum Beispiel auch polnische Städte teilnehmen, möchten wir zeigen, dass am besten vor Ort über Aufnahme und Integration von Flüchtlingen entschieden wird und diese eingebettet werden muss in eine gemeinsame Stadt­ und Kommunalentwicklung mit Investitionen in Infrastruktur, in Wohnungsbau, in Schulen und so weiter, von denen alle etwas haben.

Das Projekt schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe: Bisher lief europäische Förderung für die Kommunen immer über die nationalen Regierungen. Mit der direkten Förderung können wir mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger über die kommunale Ebene erreichen und zugleich die Identifikation der Bürger mit Europa stärken.