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Alles neu macht der Mai - oder auch nicht

von Johanna Bohnsack-Fach

Der Libanon hat am 6. Mai ein neues Parlament gewählt. Nach neun Jahren ohne Wahlen durften nun auch etwa 700 000 Erstwählerinnen und Erstwähler ihre Stimme abgeben. Viel verändert hat das nicht. Es halten nach wie vor die gleichen altbekannten politischen Akteure die Fäden in der Hand. Alte Strukturen und konfessionelle Zugehörigkeiten bestimmen immer noch sowohl große Teile der Gesellschaft als auch die Politik.
Industrie am Meer in Jounieh/Libanon
© Johanna Bohnsack-Fach

Im Libanon wurde ein neues Parlament gewählt. Nach neun Jahren konnten die wahlberechtigten Libanesen und Libanesinnen am 6. Mai 2018 zum ersten Mal wieder ihre Stimmen für Kandidatinnen und Kandidaten abgeben, die nun eine neue Regierung bilden sollen. Fast 1000 Personen stellten sich für die 128 Parlamentssitze zur Wahl. Unter den Wählern und Wählerinnen sollen sich immerhin 700 000 junge Menschen zwischen 21 und 29 Jahren registriert haben, das sind etwa 20 Prozent aller Wahlberechtigten. Dass diese große Anzahl an jungen Leuten Einfluss auf den Wahlausgang haben kann, ist unbestreitbar. Eine Veränderung im politischen System schien auf den ersten Blick wahrscheinlich. Vor allem, da zum ersten Mal in der libanesischen Geschichte nicht nach dem Mehrheitswahlrecht, sondern einem Proportionalwahlrecht gewählt wurde. In den letzten Jahren wurde eine Veränderung des politischen System, samt des Wahlgesetzes, immer wieder öffentlich gefordert. Es gab Grund zur Hoffnung.

„You stink!”

Im Sommer 2015 gingen tausende Menschen auf die Straßen Beiruts, um gegen den sich häufenden Müll zu protestieren. Nachdem die Regierung eine Mülldeponie wegen Überfüllung geschlossen hatte, türmten sich in der libanesischen Hauptstadt Berge von Müll, die in der Hitze vor sich hin stanken. Mit dem Slogan „You stink!” demonstrierten die Libanesinnen und Libanesen gegen die verfehlte Politik der Regierung. Bis heute sieht man liegengebliebenen Müll auf den Straßen. Der 21-jährige Ingenieursstudent Richard aus Zouk el Mosbeh schätzt die Situation so ein: „Es ist überall dreckig. Die Regierung lässt den Müll verbrennen, anstatt ihn zu recyclen. Das ist nicht gut. Wir sind hier nicht fortschrittlich. Vor allem Korruption ist der Grund dafür.”

So wie Richard sehen es offensichtlich einige. Aus den Protesten im Jahr 2015 entstanden zivilgesellschaftliche Bewegungen, die nun auch zu anderen politischen Themen, wie zum Beispiel Korruption, laut wurden. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2016 organisierten sie sich unter dem Namen Beirut Madinati (Beirut, meine Stadt) innerhalb einer unabhängigen Wahlliste. Auch wenn die Kandidaten und Kandidatinnen wegen des Mehrheitswahlrechts keine Sitze gewinnen konnten, war das Wahlergebnis vielversprechend: Sie erhielten knapp 40 Prozent der abgegeben Stimmen. Auch in anderen Städten gab es ähnliche Initiativen, die das Establishment herausforderten, so wie die zivilgesellschaftliche Bewegung Citizens Within a State, die sich bei den Kommunalwahlen in mehreren Städten zur Wahl stellte.

© Johanna Bohnsack-Fach


Schlechte Wirtschaft und Perspektivlosigkeit

Die Entwicklungen drückten eine Frustration aus, die sich schon lange angesammelt hatte. Die Meinung der 21 Jahre alten Theaterstudentin Sarah aus Jounieh stellt hierbei keine Seltenheit dar: „Der Libanon ist am Boden. Wirtschaftlich am Boden, politisch am Boden, alles ist am Boden.”

Die infrastrukturellen Probleme des kleinen Mittelmeerstaates nahmen ihren Anfang im 15 Jahre währenden Bürgerkrieg (1975-1990), in dem Kämpfe und gezielte Angriffe verschiedener involvierter Parteien große Teile des Landes zerstörten und zehntausende Menschen starben. Die Konfliktlinien verliefen und verlaufen bis heute entlang konfessioneller Linien. Mit 18 anerkannten Religionsgemeinschaften beherbergt der kleine Staat eine große Anzahl an verschiedenen Glaubensrichtungen. Der Kampf um die Aufteilung der politischen Macht fand im Bürgerkrieg seinen Höhepunkt.

Die Wirtschaft hat sich seither nur schleppend erholt, vieles wurde bis heute nicht wieder aufgebaut. Die Zuwendungen aus dem Ausland, die nach dem Bürgerkrieg zum Wiederaufbau in den Libanon flossen, steckte sich die politische Elite zum Großteil in die eigene Tasche. Infolge dieser verfehlten Politik und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme hat der Libanon auch mit Armut und vor allem Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Viele junge, gebildete Libanesinnen und Libanesen gehen ins Ausland, weil sie keine Perspektive im Libanon sehen. All dies trägt zu einem Gefühl von Frustration bei, vor allem bei viele Erstwählern und Erstwählerinnen. Eine politische Veränderung im Libanon erscheint dringend notwendig.

Ein weiterer Faktor sind die etwa eine Million syrischen Flüchtlinge, die seit 2011 in den Libanon gekommen sind. Da die offizielle Registrierung seit 2015 ausgesetzt wurde, wird die Dunkelziffer weitaus höher geschätzt. Für das 4,5 Millionen Einwohner starke Land stellt dies eine enorme Belastung dar. Es sind vor allem auch gesellschaftliche Spannungen, die die Stimmung im Libanon stark beeinflussen. Feindlichkeiten und Vorurteile gegenüber den syrischen Flüchtlingen sind leider keine Seltenheit.


Polemik und Amnestie

Natürlich greift auch die Politik das Thema der syrischen Flüchtlinge gezielt auf. In dem im März und April stattfindenden Wahlkampf sparte so mancher Politiker nicht an polemischen Äußerungen und rassistischen Bemerkungen gegenüber den Syrern und Syrerinnen im Libanon. Die Thematik wurde und wird somit in gefährlicher Weise instrumentalisiert. Der libanesische Außenminister Gebran Bassil äußerte sich, neben dem Staatspräsidenten Michel Aoun, im April entschieden und forderte eine baldige Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in ihr Heimatland. Schon 2014 erklärte Bassil, dass er keine syrischen Flüchtlingscamps auf libanesischem Boden wolle und vor allem keine Einbürgerung von Syrerinnen und Syrern zulassen werde. Derartige Äußerungen von hochrangigen Politikern befeuern natürlich die ohnehin schon angespannte Stimmung.

Schaut man sich jene Persönlichkeiten, Staatspräsidenten Michel Aoun und Außenminister Gebran Bassil, einmal genauer an, zeigen sich auch noch ganz andere Probleme, die das politische System des Libanon kennzeichnen. Außenminister Bassil ist gleichzeitig der Schwiegersohn des Staatspräsidenten Aoun, der wiederum militärischer Befehlshaber im Bürgerkrieg war und unter dessen Anweisungen tausende von Menschen starben. Das umfassende Amnestiegesetz von 1991 ermöglicht dies.

© Roy Hayek


Patrone und Klienten

Dass vor allem einzelne politische Persönlichkeiten und die dahinter stehenden Familien Einfluss im Libanon ausüben, hat ebenfalls historische Wurzeln. In der multi-ethnischen und multi-konfessionellen Einwanderungsregion bildete sich schon früh eine Clanstruktur heraus, in der führende Familien in den jeweiligen Clans das Oberhaupt übernahmen. Diese Struktur ist durch ein Patronage- und Klientelismussystem gekennzeichnet. Dieses beruhte auf dem Schutz der Klienten durch den Patron als Gegenleistung für Zahlungen und Gefälligkeiten seitens der Klienten.

Bis heute besitzen führende Familien einen Großteil des Vermögens im Libanon und dominieren gleichzeitig die Parteienlandschaft, die sich seit den 1920er Jahren entwickelte. Die Repräsentanten dieser Familien nutzen ihren Reichtum, um sich ihren regionalen Einfluss durch gezielte Leistungen gegenüber (potentiellen) Unterstützern zu sichern. Die Trennlinien zwischen den einflussreichen politischen Parteien verlaufen entlang konfessioneller und regionaler Linien und repräsentieren zum großen Teil immer noch jene Konfliktlinien, die während des libanesischen Bürgerkrieges zu Frontlinien wurden.

Die 24-jährige Politikstudentin Michella aus Zgharta hat eine starke Meinung zu den alteingesessenen Politikern und ihren Parteien: „Die großen Parteien und ihre Wahlkampagnen sind vergiftet. Sie halten uns davon ab, säkular zu denken. Das ist gefährlich. Ich habe Angst vor einem neuen Bürgerkrieg und möchte nicht, dass meine Kinder in Krieg aufwachsen müssen.” Hinzu kommen Korruption und Vetternwirtschaft, die feste Bestandteile dieses inoffiziellen Systems sind. All das hat im Sommer 2015 seiniges dazu beigetragen, dass viele Libanesinnen und Libanesen so entschieden protestiert haben.


Alles neu macht der Mai

Und dennoch spiegelt das Wahlergebnis nicht im Geringsten die Frustration und den Veränderungswillen wider, die sich in den Entwicklungen seit 2015 erkennen und auch in Michellas Aussagen finden lassen. Ganz im Gegenteil. Es haben nur etwa 49 Prozent der registrierten Wähler und Wählerinnen tatsächlich ihre Stimme abgegeben. Zudem konnten eben jene Parteien an Stimmen gewinnen, die seit Jahren das Establishment bestimmen. Politiker der aus einer Miliz im Bürgerkrieg entstandenen „Lebanese Forces“ waren, zusammen mit anderen, in der Vergangenheit immer wieder heftigen Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Nun konnten sie mit 14 (statt vorher acht) Sitzen ihren Anteil an den 128 Parlamentssitzen fast verdoppeln.

Die einflussreichsten schiitischen Parteien, das Amal Movement und die Hisbollah, gingen ebenfalls als große Gewinner aus den Wahlen hervor. Und das obwohl vor allem die schwer bewaffnete und vom Iran finanzierte Hisbollah wegen ihrer zunehmenden Involvierung im Syrienkonflikt heftig kritisiert wurde. Die öffentlich verwendete Rhetorik des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah scheint alles andere als den Willen zu einer außen- und innenpolitischen Deeskalation zu zeigen. Sie gewannen zusammen stolze 36 Sitze des Parlaments.

Ein großer Verlierer war der sunnitische Premierminister Saad Hariri mit seinem „Future Movement“. Er verlor rund ein Drittel seiner Sitze und kann im neuen Parlament nun statt 33 nur 21 Abgeordnete stellen. Der andere große Verlierer war die zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich, wie schon bei den Kommunalwahlen, mit unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten auf gemeinsamen Listen zur Wahl stellte. Trotz des Proporzwahlrechts schaffte es nur eine einzige Kandidatin, im Wahlkreis Beirut I, ins Parlament einzuziehen. Verstärkt wurde die Enttäuschung durch Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess und damit verbundenen Betrugsvorwürfen gegenüber den alteingesessenen Parteien.

© Roy Hayek


Verhaftet in alten Strukturen

Der Wahlausgang mag auch viele enttäuscht haben, die auf die Erstwähler und Erstwählerinnen gezählt haben, um neuen Wind in das Parlament zu bringen. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte allerdings genau das vorausgesagt. Sie hatten vor den Wahlen Libanesinnen und Libanesen zwischen 21 und 29 Jahren befragt, wie sie wählen würden. Hierbei zeigte sich, dass viele der Erstwähler und Erstwählerinnen innerhalb der vorgegebenen konfessionellen Strukturen wählen wollten und vor allem loyal gegenüber den traditionellen Führungspersönlichkeiten wären.

Auch Michella aus Zgharta, die die etablierten Parteien so entschieden verurteilt, hatte vor der Wahl angekündigt, dass sie für einen ganz bestimmten Kandidaten wählen wolle: „Ich liebe diesen Kerl. Er hat sehr viel in meiner Heimatstadt finanziert. Er ist toll.” Der 22-jährige Ingenieursstudent Hussein aus Tripoli hatte die gleichen Gründe für seine Wahl eines ganz bestimmten Kandidaten: „Er ist ein Gentleman. Er hat sehr viel getan für meine Heimatstadt.” Die Favoriten von Michella und Hussein haben sich beide innerhalb von Listen der großen, von manchen so kritisierten Parteien zur Wahl gestellt.

Einige der Erstwählerinnen und Erstwähler entschieden sich aber auch gegen die alten Strukturen und wählten bewusst die zivilgesellschaftlichen, unabhängigen Listen. So zum Beispiel die 22 Jahre alte Jurastudentin Christine, die für Kuluna Watani (Wir sind alle Patrioten) stimmte: „Es ist besser für neue Kandidaten zu stimmen, die nicht zu den etablierten Parteien gehören. Sie sind gebildet und ich glaube daran, dass sie wirklich Veränderung bringen wollen.” Auch hier hofft Christine, dass das Proporzwahlrecht diesen neuen, kleinen Gruppierungen eine Chance für den Einzug ins Parlaments bietet.


Hoffnung auf Veränderung und stabilen Frieden

Leider hat der Wahlausgang gezeigt, dass Christine offenbar zu einer Minderheit gehört. Obwohl Veränderung angesichts der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre mehr als notwendig erscheint, hat der Großteil der libanesischen Wähler und Wählerinnen doch wieder das Altbekannte gewählt. Die Gründe hierfür sind denkbar vielfältig. Die komplexe Gesellschaft des Libanon hat mit dem Bürgerkrieg eine traumatische Vergangenheit durchlebt. Die damit verbundenen Spaltungen und Konfliktlinien sind immer noch deutlich. Die Angst vor neuen Konflikten ist spürbar und lähmt scheinbar den Veränderungswillen vieler.

Das forumZFD-Team im Libanon versucht seit 2009 durch gezielte Projekte eben jene Strukturen vorsichtig aufzulösen, um Platz für ein friedliches Miteinander der unterschiedlichsten konfessionellen und ethnischen Gruppen zu schaffen. Wir unterstützen und implementieren zum Beispiel Projekte zur Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkrieges, dessen Erinnerungen bis heute zu vielen Konflikten zwischen Gesellschaftsgruppen führen und vor allem die konfessionelle Spaltung im Land aufrecht erhalten. Unser Team setzt sich aktiv auch für ein Miteinander der Menschen aus Syrien und Libanesen und Libanesinnen ein, um Dialoge zu fördern und somit einen stabilen Frieden auf allen Ebenen zu garantieren. Unsere Projekte zielen vor allem darauf ab, die libanesische Gesellschaft nachhaltig dazu zu befähigen, sich von innen heraus zu helfen und somit eine stabile und konfliktfreie Zukunft für den Libanon mitzugestalten.

© Johanna Bohnsack-Fach
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